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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Aldanov, Mark A.: England und Engländer heute
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0148
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festzustellen, wo denn die Versammlung stattfinden würde: weder Schutzmann
noch Straßenpassanten konnten es mir sagen. Eine fesche Verkäuferin in einem
Laden fragte verwundert: „Wird denn Churchill in Ilford sprechen ?"
Ich habe viel über ihn geschrieben, aber gesehen habe ich ihn zum erstenmal;
eigens zu diesem Zweck fuhr ich nach Ilford und war etwas enttäuscht. Er
sprach gut, aber ohne besonderen Schwung. Bruce Lockarth nannte unlängst
Churchill den „letzten klassischen Redner Großbritanniens". Ich glaube, daß das
übertrieben ist. Jaures, Graf de Mayne, Paul Boncour, Stresemann, Alcala Zamora
und andere berühmte ausländische Redner, die ich zu hören Gelegenheit hatte,
sprachen viel besser. Churchill kämpfte bissig von der Tribüne aus. Auch sein
Aussehen war dementsprechend — als ob er von allen angegriffen würde. Aber
eigentlich könnte man meinen: „Wer wird dich schon kränken? Du selbst wirst
jeden beleidigen."
In den Kreisen der Arbeiterpartei wird behauptet, daß Churchill der „einzige
gefährliche Reaktionär Englands" sei: er schwärme für eine Diktatur und wolle
den Sozialismus vernichten. Ich verstehe nicht ganz, was es für eine Diktatur in
England geben kann, woher sie kommen soll und zu welchem Zweck eigentlich.
Und Churchill sollte Diktator werden? Es gibt Menschen, die schon durch ihr
Äußeres vorbestimmt scheinen, Diktatoren zu werden — ein solcher Mensch war,
zum Beispiel, General Wrangel. Churchill ist ein schwerer dicker Mensch (der
ehemalige Husar ist kaum auf die Tribüne hinaufgekommen), mit einem auf-
gedunsenen Gesicht und mit einer ziemlich hohen, unangenehm schrillen Stimme.
Er ist achtundfünfzig Jahre alt. „In Ihrem Alter, verehrter Herr, war Napoleon
schon lange tot", sagte zum General Boulanger ein geistreicher Abgeordneter
unter allgemeinem Gelächter der französischen Kammer.
Er kam zur Versammlung im Smoking, wahrscheinlich nach einem guten
Mittagessen, und war sehr gut aufgelegt. Ich weiß nicht, ob er den Sozialismus
vernichtet hat, aber augenscheinlich liebt er die Sozialisten nicht. Seine Ausfälle
gegen die Arbeiterpartei waren amüsant, weniger dem Inhalt nach als durch die
Art, wie er sie vorbrachte.
„Ich war stets überzeugt, daß die sozialistische Regierung eine garstige Sache
ist", sagte Churchill mit betrübter Miene und ohne die Stimme zu erheben, so als
ob er mit sich selbst spräche .. . „Ja, eine garstige Sache, garstige Sache", wieder-
holte er. „Trotzdem konnte ich nicht glauben, daß sie in so kurzer Zeit soviel Un-
glück anrichten würde .. ." Er machte eine kurze Pause, gleichsam als überschlage
er in Gedanken die von den Sozialisten während ihrer Regierung verursachten
Leiden und sich gleichsam fragend, ob er es sich denken konnte, daß das Unglück
so groß sein würde. „Nein, nein, ich dachte es nicht, das dachte ich nicht", fuhr
er ebenso leise fort, ebenso bekümmert den Kopf schüttelnd. Und plötzlich, ohne
jeden Übergang, schrie er mit wilder, wütender Stimme: „In knapp zwei Jahren
haben diese Menschen England zugrunde gerichtet!"

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