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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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White, Wlliam C.: Die moskowitische Studentin
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0409
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recht entzogen werden sollte." Am schwarzen Brett hing ein Anschlag: „Den
folgenden Studenten wird hiermit das Wahlrecht entzogen..." und es folgte eine
Liste mit einem Dutzend Namen und hinter jedem Namen die Begründung:
„Tochter eines Geistlichen" — „Sohn eines Fabrikbesitzers" — „Tochter eines
Gutsbesitzers". Das war die Tschistka (Säuberung) vor der jährlichen Wahl;
auch das Wahlrecht hängt von der gesellschaftlichen Herkunft ab, so daß die
Tschistka eine Gelegenheit ist, festzustellen, welche Angehörige der entrechteten
Klassen sich noch unter falscher Flagge in der Universität befinden.
Ich traf die Adamowa in einem kleinen Kaffee inmitten einer Schar Studenten.
Sie sprachen über die Tschistka. „Ich verstehe nicht, wie sich solche Studenten
einschmuggeln können."
„Oh, sie fälschen ihre Studentenausweise!"
„Sie kommen von weit her und denken, wir finden sie nicht heraus . . ."
„In unserer Hochschule", sagte die Adamowa, „ist kein Platz für diese ,Ehe-
maligen'. Es gibt zu viele Arbeiter, die studieren wollen."
Die Gruppe brach auf, und die Adamowa wandte sich an mich: „Wie geht es
Ihnen? Kommen Sie in unseren Tagesraum, ich habe zehn Minuten Zeit, ich
bin so beschäftigt mit dieser Tschistka, jeden Tag Komiteesitzungen, verstehen
Sie, was das für uns bedeutet? Sie glauben nicht, wie tief die Revolution in das
Leben des einzelnen eingegriffen hat. Haben Sie gehört, daß eines der Mädchen,
die gestern bei der Tschistka ausgeschlossen wurden, heute nacht Selbstmord
begangen hat? Sie kann mir leid tun, aber ich verstehe sie nicht. Sie hatte hier
nichts zu suchen, Sie kommt auf eigene Gefahr. Wenn sie entdeckt wird, muß sie
die Folgen tragen. Die ,Ehemaligen' haben lange genug das Steuer des Russischen
Reiches geführt. Wir haben sie beseitigt, und es gibt kein Russisches Reich mehr.
Es gibt nur noch unsere Sowjet-Republik . . . Haben sich diese ,Ehemaligen'
irgendwie gerührt, als Lenin nach Sibirien verbannt wurde, als die kaiserliche
Polizei 1912 in den Lenafeldern zweihundertsiebzig Arbeiter erschoß? Wer hatte
damals Mitleid? Sie hielten sich für unbesiegbar. Sie glaubten, wir würden sie
nie vernichten können. Und wir haben sie doch vernichtet! Und nun gehört
unser Leben dem Aufbau der Sowjetunion und dem Kommunismus in der
ganzen Welt."
* * *
Viele Vorlesungen an der Hochschule werden durch eine besondere Art von
Übungen ergänzt: nach der Vorlesung wird die Zuhörerschaft in kleine Gruppen
aufgeteilt, die eine Stunde lang über den Gegenstand debattieren. Ich ging mit
Woronow und der Adamowa zu ihrer Übung im Lehrgang der Politischen
Grammatik — der Geschichte und Theorie des Kommunismus — ein Lehrgang,
der für alle Schüler in allen Schulen Moskaus obligatorisch ist, ob es nun die
Ballettschule, eine Schule für Krankenschwestern, eine Hochschule oder das
Konservatorium ist.
„Adamowa, gehst du heute abend auf die Schlittschuhbahn ?" fragte
nachher Woronow. „Heute abend spielt ein Orchester. Studenten haben freien
Eintritt, kommen Sie auch mit", wandte er sich zu mir.
„Genosse", antwortete die Adamowa ärgerlich, „ich studiere ,Politgrammat',
die Geschichte der Arbeiterbewegung in Europa, bürgerliches Recht, Strafrecht,
Verwaltung, die Geschichte der Pariser Kommune und dazu noch diese ver-
dammte deutsche Sprache —, wie kann ich da noch Schlittschuh laufen?"
(Übertragung aus dem Amerikanischen)

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