GALERIE BÜRGERLICHER MÄDCHEN
in neun Selbstbildnissen*
Garderoben - Reporters,
der hundertprozentigen
Probenarbeit, der rau-
schenden Premiere, kurz
gesagt, das Theater wie
es vom Parkett aussieht,
sondern den Schmutz der
bestaubten Kulissen, der
an die hundert mal ge-
tragenen Kostüme und
der engen Garderoben,
das zermürbende Einer-
lei der endlosen Proben,
welche man mit warten,
futtern und nochmals
warten verbringt, des
daraus entstehenden
Klatsches und nicht
zuletzt der unvermeid-
lichen faulen Witze.
In diesem langer-
sehnten Eldorado geht
Muß man zum Theater gehn?
Von Lilo Reiner (Berlin)
Viele junge Mädchen, und von diesen speziell soll hier die Rede sein, haben noch heute den
Wunsch zum Theater zu gehen. Schuld daran ist wohl die Überschätzung des Äußeren, das
heißt ihres eigenen Äußeren und des noch immer romantischen Eindrucks, den das Theater auf
den Außenstehenden macht. In der Hauptsache ist es wohl aber bei uns Mädchen ein romantischer,
im Unterbewußtsein liegender, typisch weiblicher Spieltrieb, der sich früher weit ungefährlicher in
PoesiealbenundBlumen-
malerei austobte. Heute,
da die Schranken des ge-
sellschaftlichen Vorur-
teils wesentlich verrückt
sind, soziale Not fast
jedes junge Mädchen
zum unbedingten Geld-
erwerb zwingt, stürzen
wir uns ahnungslos,
berauscht von der so-
genannten Freiheit, als
Girls, Figurantinnen und
ein geringer Teil als
Schauspielerinnen in die
langersehnten Theater-
betriebe. -— Dort finden
wir nicht, wie erwartet,
die himmelblaue Atmo-
sphäre des blendenden
Kostüms, des sieges-
gewissen Lächelns, des
uns nach einiger Zeit ein Licht auf, daß wir auf einem toten Gleis gelandet sind; wir sehen,
der romantische Aufstieg, die Vorwärtsbewegung, bleibt aus, und fragen uns: warum das?
Nicht nur, weil wir kein Glück haben, weil wir in einer Zeit des Überangebotes der Arbeits-
kräfte auf jedem Gebiete leben, sondern weil der Fehler in uns selbst liegt; die meisten von uns
sind viel zu weiche Naturen, uns fehlt eine gewisse Chutsbe, wir nehmen das Leben ernst, wir
nehmen überhaupt alles ernst, wir leiden unter unserer Untätigkeit, unter der Sinnlosigkeit
unserer Arbeit und es wird uns klar, daß eine jede harmlose Hausfrau mit weniger Nerven-
aufwand und sonstigen persönlichen Opfern mehr Positives leistet als wir. Für die wenigen unter
uns, die anders sind, die mit einer gewissen gesunden Frechheit versehen die Dinge nicht so ernst
nehmen, alles an sich herablaufen lassen, besteht die Möglichkeit etwas zu erreichen. Allerdings
ist die Zahl derer unter ihnen, die ans Ziel gelangen, gering und die Zahl derer, die kaputt gehen an
sich selbst, oder besser an ihrer Einstellung zur Atmosphäre des Theaters, so groß, daß der Weg
zum Theater, wenn man ihn günstig beurteilt, einem Glücksspiel zu vergleichen ist, bei dem als
Einsatz unsere ganze Persönlichkeit, das heißt unser Privatleben, unsere Nerven und nicht zuletzt
unsere moralische Weltanschauung, gefordert wird für den eventuellen Gewinn, die Karriere.
Es bleibt also als einzig logische Lösung dieses Rechenexempels der Satz: man muß nicht
zum Theater gehen.
Sollten diese Zeilen theaterhungrigen jungen Mädchen in die Hände fallen, und sollten sie
nur fünf Minuten dabei verweilen, so habe ich meinen Zweck erreicht, denn ich weiß, daß ein
jeder seine Erfahrungen letzten Endes doch alleine machen muß.
* Diese Aufsätze, alle deutsch geschrieben, erscheinen im Wortlaut und der Schreibweise der Verfasserinnen.
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in neun Selbstbildnissen*
Garderoben - Reporters,
der hundertprozentigen
Probenarbeit, der rau-
schenden Premiere, kurz
gesagt, das Theater wie
es vom Parkett aussieht,
sondern den Schmutz der
bestaubten Kulissen, der
an die hundert mal ge-
tragenen Kostüme und
der engen Garderoben,
das zermürbende Einer-
lei der endlosen Proben,
welche man mit warten,
futtern und nochmals
warten verbringt, des
daraus entstehenden
Klatsches und nicht
zuletzt der unvermeid-
lichen faulen Witze.
In diesem langer-
sehnten Eldorado geht
Muß man zum Theater gehn?
Von Lilo Reiner (Berlin)
Viele junge Mädchen, und von diesen speziell soll hier die Rede sein, haben noch heute den
Wunsch zum Theater zu gehen. Schuld daran ist wohl die Überschätzung des Äußeren, das
heißt ihres eigenen Äußeren und des noch immer romantischen Eindrucks, den das Theater auf
den Außenstehenden macht. In der Hauptsache ist es wohl aber bei uns Mädchen ein romantischer,
im Unterbewußtsein liegender, typisch weiblicher Spieltrieb, der sich früher weit ungefährlicher in
PoesiealbenundBlumen-
malerei austobte. Heute,
da die Schranken des ge-
sellschaftlichen Vorur-
teils wesentlich verrückt
sind, soziale Not fast
jedes junge Mädchen
zum unbedingten Geld-
erwerb zwingt, stürzen
wir uns ahnungslos,
berauscht von der so-
genannten Freiheit, als
Girls, Figurantinnen und
ein geringer Teil als
Schauspielerinnen in die
langersehnten Theater-
betriebe. -— Dort finden
wir nicht, wie erwartet,
die himmelblaue Atmo-
sphäre des blendenden
Kostüms, des sieges-
gewissen Lächelns, des
uns nach einiger Zeit ein Licht auf, daß wir auf einem toten Gleis gelandet sind; wir sehen,
der romantische Aufstieg, die Vorwärtsbewegung, bleibt aus, und fragen uns: warum das?
Nicht nur, weil wir kein Glück haben, weil wir in einer Zeit des Überangebotes der Arbeits-
kräfte auf jedem Gebiete leben, sondern weil der Fehler in uns selbst liegt; die meisten von uns
sind viel zu weiche Naturen, uns fehlt eine gewisse Chutsbe, wir nehmen das Leben ernst, wir
nehmen überhaupt alles ernst, wir leiden unter unserer Untätigkeit, unter der Sinnlosigkeit
unserer Arbeit und es wird uns klar, daß eine jede harmlose Hausfrau mit weniger Nerven-
aufwand und sonstigen persönlichen Opfern mehr Positives leistet als wir. Für die wenigen unter
uns, die anders sind, die mit einer gewissen gesunden Frechheit versehen die Dinge nicht so ernst
nehmen, alles an sich herablaufen lassen, besteht die Möglichkeit etwas zu erreichen. Allerdings
ist die Zahl derer unter ihnen, die ans Ziel gelangen, gering und die Zahl derer, die kaputt gehen an
sich selbst, oder besser an ihrer Einstellung zur Atmosphäre des Theaters, so groß, daß der Weg
zum Theater, wenn man ihn günstig beurteilt, einem Glücksspiel zu vergleichen ist, bei dem als
Einsatz unsere ganze Persönlichkeit, das heißt unser Privatleben, unsere Nerven und nicht zuletzt
unsere moralische Weltanschauung, gefordert wird für den eventuellen Gewinn, die Karriere.
Es bleibt also als einzig logische Lösung dieses Rechenexempels der Satz: man muß nicht
zum Theater gehen.
Sollten diese Zeilen theaterhungrigen jungen Mädchen in die Hände fallen, und sollten sie
nur fünf Minuten dabei verweilen, so habe ich meinen Zweck erreicht, denn ich weiß, daß ein
jeder seine Erfahrungen letzten Endes doch alleine machen muß.
* Diese Aufsätze, alle deutsch geschrieben, erscheinen im Wortlaut und der Schreibweise der Verfasserinnen.
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