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Galerie Flechtheim [Contr.]
Der Querschnitt — 12.1932

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Wiener, Richard: Empfehlung eines neuen Sports
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https://doi.org/10.11588/diglit.73728#0583
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Empfehlung eines neuen Sports
Von
Richard Wiener
Das Leben besteht — wenn man Kant nur einigermaßen glauben darf — aus
Raum und Zeit, oder vielmehr, es spielt sich — so sagt er — in den En
scheinungsformen von Raum und Zeit ab, wie unser Gehirn sie produziert. Nun
kann man den Raum zu allerhand verwenden. Manche lassen ihn von Architekten
ausstatten. Andere benützen ihn, um in ihm Handelsbeziehungen anzuknüpfen
und auszubauen. Auch Politik ist ohne Raum schwer denkbar. Seine wichtigste
Beziehung zur heutigen Zeit aber liegt darin, daß er die wesentlichste Daseins^
bedingung des Sports darstellt. Sport ist ein in seinen Motiven noch nicht ganz
geklärtes Streben, die Lage der Dinge im Raume zu verändern. Man wirft Bälle
verschiedener Größen und Härtegrade, Speere, Disken, Kugeln und Steine. Man
trachtet, in Gestalt der Touristik, sich selbst in diagonaler Linie aufwärts im Raume
zu verschieben. Oder durchsaust als Streckenläufer und Autofahrer den Raum
in der Horizontalen. Überwindung des Raumes, Übertölpelung mit allen hierzu
geeigneten Mitteln, scheint tatsächlich das heimliche Streben aller Sportbetätigung
zu sein, wozu noch als integrierender Bestandteil ein leiser Trieb ^ Selbstmord
hinzukommt.
Die Gefahr im Sport, der unbewußte Wunsch nach Selbstvernichtung, der sich
bei halsbrecherischen Sportübungen kundtut, stellt gewissermaßen die Anschluße
zone an die zweite Erscheinungsform unseres Daseins dar: an die Zeit, deren man
begreiflicherweise bei tödlichem Ausgang verlustig geht. Völlig irrig ist daher die
Meinung jener, die gerade im gefährlichen Sport eine Erhöhung des Lebens^
gefühles, einen gesteigerten Lebensdrang vermuten. Der sonnige Kletterer an
der Felswand ist nicht so sehr als einer zu betrachten, der in jauchzender Lebenslust
den Höhen zustrebt, denn vielmehr als ein solcher, der einen tiefeingeborenen
Hang zum Abgrund in sich trägt und nur aus Gründen einer gewissen Koketterie
Positivismus heuchelt. Es handelt sich also in jedem Falle — ob nun lediglich eine
simple Prellung des Sprunggelenks beim Tennisspiel oder ein wirklicher Genicke
bruch in Aussicht steht — nicht um eine Überwindung, sondern um eine Ver^
suchung des Raumes, über deren unterbewußte Wurzeln die einschlägigen Er^
klärungen der Psychoanalyse noch erwartet werden dürfen. Vielleicht um eine
Art Selbstverdrängung, deren systematische Durchleuchtung das Wesen des Sports
mit einem Schlage klarstellen könnte.
Nun gibt es aber freilich auch noch eine Zeit, die beim Sport — soweit es sich
nicht um Zeitrekorde handelt — • nicht im gleichen Sinn beansprucht wird und
daher als unbefriedigte Komponente des Lebens nebenherläuft. In kurzen Worten:
neben dem Raumsport, der unter der täuschenden Maske der Vitalitätssteigerung
auftritt, wäre noch — aus Gründen der Pedanterie und des philosophischen
Parallelismus — ein Zeitsport zu entdecken und psychologisch zu begründen.
Gesetzt den Fall, ein Mann ginge in den Laden eines Kunsthändlers und kaufte
dort eine altrömische Marmorstatue, um sich in seinen Räumen an ihrem Anblick

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