Galerie Flechtheim [Mitarb.]
Der Querschnitt
— 14.1934
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DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:Clair, René: Kino heute
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Kino heute
Von
Rene Clair
Vor dem Krieg . . . nein, ich wollte sagen: vor dem Sprechfilm . . .“
Wie oft haben wir das schon gehört! Wenn wir vom Kino sprechen
wollen, wie es noch vor fünf Jahren war, fällt uns ganz selbstverständlich
die Präzisierung „vor dem Krieg“ ein. Die Verwirrung, in die unser Kopf
bei dieser Gelegenheit gerät, gibt denen zu denken, die das Schicksal des
Kinos interessiert.
*
Man muß es zugeben: die meisten durch das Hochkommen des Sprech-
films geweckten Besorgnisse waren berechtigt. Diesmal hatten die Schwarz-
seher recht. Die andern, jene, die immer auf alles schwören, was „Fortschritt“
heißt, gerieten in Verzückung, als sie zum erstenmal ein Bild sprechen hörten.
Sie sollen jetzt eine ehrliche Bilanz machen: wie viele Filmwerke von heute
verdienen in unserer Erinnerung einen Platz neben denen, die der Film von
gestern uns geschenkt hat?
Müßiges Jammern, gewiß. Aber drücken wir uns genauer aus: niemand
wird bedauern, daß der Ton zum Bild hinzugekommen ist. Niemand denkt
daran, diese herrliche Erfindung an sich zu verurteilen. Man bedauert nur
den willkürlichen Gebrauch, der von ihr gemacht worden ist. Der stumme
Film war zweifellos nicht immer auf der Höhe, aber so tief wie die meisten
Sprechfilme ist er kaum je gesunken.
Eines muß man unbedingt als Aktivposten des neuen Films buchen: er
hat uns von den unerträglichen Untertiteln befreit. Aber ihr ebenso auf-
dringlicher wie gewöhnlicher Text lebt weiter. Nur wird er uns jetzt, statt
daß wir ihn sehen, von einem Lautsprecher vom Anfang bis zum Ende des
Films unerbittlich in die Ohren gebrüllt.
Manchmal stammt der Text eines Films von einem bekannten Dramatiker:
was dabei herauskommt, muß deswegen nicht unbedingt besser sein. Oft
stammt sogar das ganze Filmbuch, Aufbau und alles, von einem dramatischen
Schriftsteller: doch auch das bedeutet für den Film nicht immer einen Gewinn.
Man darf deswegen nicht glauben, daß ich gegen alles, was der Film vom
Theater bezieht, feindselig eingestellt bin. Gute Autoren von Theaterstücken
und deren Interpreten können auch gute Filmautoren und -schauspieler sein.
Aber eine Regel ist das keineswegs. Ein Maler kann auch Bildhauer sein.
Aber alle guten Maler sind nicht gute Bildhauer. Malerei und Plastik haben
verschiedene Ziele und eigene Techniken. Weshalb erscheint diese banale
Feststellung manchem als vermessene Anmaßung, wenn man sie auf die Be-
ziehungen zwischen Theater und Film anwendet?
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Von
Rene Clair
Vor dem Krieg . . . nein, ich wollte sagen: vor dem Sprechfilm . . .“
Wie oft haben wir das schon gehört! Wenn wir vom Kino sprechen
wollen, wie es noch vor fünf Jahren war, fällt uns ganz selbstverständlich
die Präzisierung „vor dem Krieg“ ein. Die Verwirrung, in die unser Kopf
bei dieser Gelegenheit gerät, gibt denen zu denken, die das Schicksal des
Kinos interessiert.
*
Man muß es zugeben: die meisten durch das Hochkommen des Sprech-
films geweckten Besorgnisse waren berechtigt. Diesmal hatten die Schwarz-
seher recht. Die andern, jene, die immer auf alles schwören, was „Fortschritt“
heißt, gerieten in Verzückung, als sie zum erstenmal ein Bild sprechen hörten.
Sie sollen jetzt eine ehrliche Bilanz machen: wie viele Filmwerke von heute
verdienen in unserer Erinnerung einen Platz neben denen, die der Film von
gestern uns geschenkt hat?
Müßiges Jammern, gewiß. Aber drücken wir uns genauer aus: niemand
wird bedauern, daß der Ton zum Bild hinzugekommen ist. Niemand denkt
daran, diese herrliche Erfindung an sich zu verurteilen. Man bedauert nur
den willkürlichen Gebrauch, der von ihr gemacht worden ist. Der stumme
Film war zweifellos nicht immer auf der Höhe, aber so tief wie die meisten
Sprechfilme ist er kaum je gesunken.
Eines muß man unbedingt als Aktivposten des neuen Films buchen: er
hat uns von den unerträglichen Untertiteln befreit. Aber ihr ebenso auf-
dringlicher wie gewöhnlicher Text lebt weiter. Nur wird er uns jetzt, statt
daß wir ihn sehen, von einem Lautsprecher vom Anfang bis zum Ende des
Films unerbittlich in die Ohren gebrüllt.
Manchmal stammt der Text eines Films von einem bekannten Dramatiker:
was dabei herauskommt, muß deswegen nicht unbedingt besser sein. Oft
stammt sogar das ganze Filmbuch, Aufbau und alles, von einem dramatischen
Schriftsteller: doch auch das bedeutet für den Film nicht immer einen Gewinn.
Man darf deswegen nicht glauben, daß ich gegen alles, was der Film vom
Theater bezieht, feindselig eingestellt bin. Gute Autoren von Theaterstücken
und deren Interpreten können auch gute Filmautoren und -schauspieler sein.
Aber eine Regel ist das keineswegs. Ein Maler kann auch Bildhauer sein.
Aber alle guten Maler sind nicht gute Bildhauer. Malerei und Plastik haben
verschiedene Ziele und eigene Techniken. Weshalb erscheint diese banale
Feststellung manchem als vermessene Anmaßung, wenn man sie auf die Be-
ziehungen zwischen Theater und Film anwendet?
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