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Raczyński, Joseph Alexander
Die flämische Landschaft vor Rubens: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der flämischen Landschaftsmalerei in der Zeit von Brueghel bis zu Rubens — Veröffentlichungen zur Kunstgeschichte, Band 1: Frankfurt am Main: Prestel-Verlag GmbH, 1937

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https://doi.org/10.11588/diglit.55803#0086
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stelltet großer Baum steht aber jetzt ganz im Bilde: alles Kulissenhafte des Aufbaues, alle
Vordergrunds schwellen und Bildschichten sind weggefallen; in breitem Strome durchfließt
ein einheitlicher landschaftlicher Raum das ganze Bild. Ebenso wie die Jäger, Pferde und
Hunde von allen Seiten aus auf die Mitte hin stürzen und sich über dem hier von den Hunden
gestellten Eber zu einem wilden Knäuel zusammenballen, sind auch alle Linien und Bewe-
gungen der Landschaft auf die Mitte konzentriert, um von hier aus wieder zurückzustrahlen
und so die Landschaft mit einem völlig einheitlichen Schwung zu erfüllen und zusammen-
zuschließen.
Eine Baumstudie im Louvre in Paris168 zeigt, daß die Anregung zu diesem Bild von einem
wirklich in der Natur gesehenen Motiv ausgegangen ist. «Die »Wahrheit« dieser Natur scheint
für den Künstler wie für den Beschauer vielmehr darin zu bestehen, daß sie in der Fülle ihres Le-
bens empfunden und genossen ist, als daß sie für sich genommen und »gesehen« wäre»169.
Die Staffage, die die Landschaft belebt, ohne ihren Inhalt zu bilden, gehört wesentlich zum
Bild dazu; sie wächst im engsten Sinne des Wortes aus der Landschaft heraus: die Jagd-
gesellen am Baumstamm links sind im Bilde aus den Formen der Wurzel des gestürzten Bau-
mes - wie wir sie in der Pariser Skizze sehen - herausgebildet. Diese Figuren sind völlig
verlandschaftlicht, die Landschaft ihrerseits wird durch die in ihr sich abspielende, wild be-
wegte Jagdszene dramatisiert.
Trotz aller Ungezwungenheit und Natürlichkeit, trotz der Unmittelbarkeit der Einfühlung
in das Leben und Wachsen der Natur steht auch bei Rubens das Bestreben, die Landschaft in
klarer und fest gefaßter Form zu erfassen, an erster Stelle. Das Leben, das seine Landschaften
durchströmt, ist im Grunde dasselbe wie das der Jeweils gleichzeitigen Figurenbilder. In der
Dresdener Landschaft mit der Eberjagd ist es besonders deutlich zu erkennen, da hier zwei
Bildgattungen - Landschaft und Jagd- oder Schlachtenbild - Zusammentreffen. Was die Land-
schaft bei Rubens zu so unsagbarer Großartigkeit erhebt, ist nicht allein die unmittelbare
Wiedergabe der Natur, sondern vor allem die innere Struktur, die im Figurenbild und der
Landschaft die gleiche ist170. Von hier aus zurückblickend, können wir sehen, daß es die-
selben Bestrebungen sind, die die vorausgehende Zeit in mühevoller Arbeit zu verwirklichen
suchte - hier endgültig erfüllt durch die ganz einmalige überragende künstlerische Persön-
lichkeit des Peter Paul Rubens. Jakob Burckhardt hat einmal gesagt, es scheine, als hätte sich
die elementare Natur, die Landschaft, «vertrauensvoll an ihn gewandt, er möge sie auf seine
Adlerschwingen nehmen»!
Zwei weitere Landschaften aus dem Beginn der zwanziger Jahre können uns dies noch
einmal besonders eindringlich veranschaulichen. In der Landschaft mit dem Schafhirten der
National Gallery in London171 ist ein vielleicht in der Natur gesehenes Motiv sehr unmittel-
bar und «natürlich» wiedergegeben und zugleich in einer geschlossenen und in sich ausge-
wogenen Form erfaßt. Dasselbe Thema greift Rubens wenige Jahre später noch einmal in
einer zweiten großen Landschaft (Abb. 5 7) auf, die in allerletzter Zeit aus dem Besitz des Her-
zogs von Buccleuch ebenfalls in die National Gallery gelangte. Das frühere Bild ist bis in alle
Einzelheiten genau wiederholt, aber in einen noch weiteren, schwungvolleren und zugleich
festeren kompositionellen Rahmen gestellt (es bildet die linke Hälfte des Mittelgrundes der
Buccleuch-Landschaft). Das Bild ist dadurch in seiner ganzen Wirkung gesteigert. Es ist
keine Wiedergabe einer natürlichen, gesehenen Landschaft, sondern eine komponierte Ideal-
landschaft, die aus einzelnen Teilen zu einer unlöslichen Einheit höherer Ordnung zusammen-
gefügt ist, welche ihren Sinn in sich selbst findet und durch ein sowohl optisches wie ästheti-

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