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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 4.1902

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Rüttenauer, Benno: Goethe und der Rhein
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https://doi.org/10.11588/diglit.49103#0023

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Und sie waren zum Weinberg gelangt und traten ins Dunkel.
Und so leitet’ er sie die vielen Platten hinunter,
Die, unbehauen gelegt, als Stufen dienten im Laubgang.
Langsam schritt sie hinab, auf seinen Schultern die Hände;
Und mit schwankenden Lichtern durchs Laub überblickte
der Mond sie.
Es thut uns hier förmlich weh, dafs wir
nicht den Rhein einmal in der Tiefe blitzen
sehen. Aber Goethe wollte keine so starke ört-
liche Bestimmtheit.
* *
*
Mehr als in Versen hat Goethe in Prosa
seine Eindrücke niedergelegt. Leider that er
dies jedoch nicht unmittelbar so lang er jung
war, und so handelt es sich bei diesen Stellen
weder in dem oben bezeichneten noch in irgend
einem Sinn um „Gegenwartspoesie“, um frisch-
lebendige Gegenwart, um Dokumente der Gegen-
wart, sondern nur um Erinnerungen an diese.
Aber wäre nur, dichterisch, reine Vergegen-
wärtigung der Erinnerung angestrebt! Auch dies
ist nur ausnahmsweise der Fall. Häufig genug
werden Erinnerungen durch Reflexionen ver-
treten, oder jene werden in so summarischer
Form vermittelt, dafs sie nur blasse Umrisse
geben statt farbiger Bilder. Überall merkt man,
dafs es Goethe mehr zu thun ist um sein
Denken über die Sache, als um die Sache selber,
und dafs er das lieber hervorhebt, was ihm
Veranlassung zu Reflexionen giebt, als das, was
uns die Vergangenheit unmittelbar und un-
reflektiert zur Gegenwart machen würde.
Dadurch sind die betreffenden Bücher und
Kapitel zwar schwer von Gedanken und hoch-
bedeutend durch lichtvolle Weisheit; aber immer
haben wir, schon durch den Rhythmus des Stils,
den vorführenden Goethe mehr vor Augen als den
vorgeführten und seine Umgebung. Und vollends
umsonst erwarten wir, dafs, vom Stab der Poesie
berührt, die besprochene Vergangenheit dich-
terisch lebendige Gegenwart werde und vor uns
aufsteige in ihrer ganzen frisch-farbigen Pracht
und Jugendschöne.
Das war eben nicht Goethes Absicht und
Zweck. Was er wollte, war nicht sich und
seinen Lebensgang zu reproduzieren, sondern
sich klar darüber zu werden. Sich die Welt
und sich selber so klar zu machen als nur
möglich, hat von Jugend auf seine Eigenart be-
stimmt, und dieser Hang wurde mit den Jahren
immer vorherrschender. Er bedingte notwendig
auch seinen Stil. Nachdem aber dieser einmal
eine gewisse Prägung erlangt hatte, mufste er
seinerseits wieder Richtung und Tendenz aller
Darstellung beeinflussen. Und so verhält sich
fast alle Erzählung Goethes, seine Rhein-Er-
lebnisse betreffend, zu diesen Erlebnissen selbst,
ungefähr wie sich der zweite Teil seines „Faust“
zum ersten Teil verhält.
Als Goethe in ,Wahrheit und Dichtung* zum
zweitenmal auf Lenz zu sprechen kommt, schreibt
er: — nun will ich von seinem Charakter mehr

in Resultaten als schildernd sprechen, weil
es unmöglich wäre, ihn durch die Umschweife
seines Lebensganges zu begleiten und seine
Eigenschaften darstellend zu überliefern.
Hier hat Goethe selber die Methode wunderbar
charakterisiert, die in „Wahrheit und Dichtung“
vorherrschend ist. Von den vergangenen Er-
lebnissen und derzeitigen Zuständen uns einen
reinen Begriff zu geben, dessen ist Goethe red-
lich bemüht, und das mufs ihm wunderbar ge-
lingen; aber die voll- und vielgestaltige An-
schauung vor uns hinzuzaubern, darauf ver-
zichtet er oft. Und das innerliche Geschehen
bedeutet ihm mehr als das äufserliche.
* *
*
In drei Werken hat Goethe über den Rhein
geschrieben: in ,Wahrheit und Dichtung*, in der
„Campagne in Frankreich“ und zuletzt in Berich-
ten für die damalige Zeitschrift „Rhein und Main**.
Zum erstenmal kam Goethe an den Rhein —
Rhein im engeren Sinne — im Jahre 1773, also
in einem Alter von 24 Jahren. Es war der Ab-
schlufs seiner Wetzlarer Tage und seiner Leiden-
schaft zu Charlotte Buff, von der er sich „mit
zwar reinerem Gewissen als von Friedriken,
aber doch nicht ohne Schmerz trennte“.
Dieser erste Ausflug an den Rhein wird
noch mit liebevollem Eingehen erzählt. Wir
sehen mit lebhafter Deutlichkeit den jungen
Goethe zu Fufs die Lahn hinunter wandern,
und die wechselnde Landschaft des Thals, mit
seinen Burgen und Ruinen, kommt vollkommen
zum Gefühl. Die trocken registrierende Be-
schreibung, die Goethe in seiner letzten Zeit —
ich erinnere nur an seine dritte Schweizerreise
— liebte und pflegte, wird zum Glück in
,Wahrheit und Dichtung* noch nicht angetroffen.
Ein paar leise Andeutungen geben Bild und
Stimmung. Auf eigentliches Malen wird ver-
zichtet. Und das ist gut motiviert: „Der junge
Mensch, nur mit äufserster Kraftanstrengung
dem Selbstmord entronnen und von einer töd-
lichen Leidenschaft noch keineswegs befreit,
war zunächst mehr mit seinem Innern als mit
seiner äufsern Umgebung beschäftigt**.
Und wenn ihm diese, durch auffallende Be-
sonderheit, endlich doch Aufmerksamkeit ab-
zwang, so betrachtete er sie mehr als Zeichner
denn als Dichter. Denn noch war er sich nicht
klar, durch welches der beiden Ausdrucksmittel
er zur Kunst gelangen sollte. Er will es aber
endlich entschieden wissen, und er nimmt seine
Zuflucht zu einem Orakel. Es ist die Geschichte,
wie er sein schönes neues Taschenmesser in
den Flufs wirft. Aber auch Sein Orakel, wie
alle, fällt zweideutig aus, und die eigentliche
Entscheidung bleibt doch wieder ihm selber
überlassen. Er schiebt sie nun nicht länger
auf, er entscheidet sich für die Dichtung.
Nun kann er sich seinem Hang, mehr in
sich hinein als aufser sich zu sehen, der seiner

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