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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 6.1903

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Heft 9
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Hauser, Otto: Die holländische Lyrik unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.45537#0140

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Willem C. Brouwer, Leiderdorp.
Irdene Gefässe.

Die holländische Lyrik unserer Zeit.
Von Otto Hauser.

Das neunzehnte Jahrhundert erhielt durch
eine ausserordentliche Regsamkeit auf allen Ge-
bieten sein besonderes Gepräge; auf dem der
Literatur war es der wiedererwachende Nationa-
lismus, der auch in den kleineren Ländern, die
bis dahin einem der führenden Kulturstaaten
sich angeschlossen hatten, ein volkstümliches
Schrifttum hervorrief, ihnen eine eigene Kunst
gab. So erstanden die einzelnen slavischen
Literaturen aus wenig bedeutsamen Anfängen,
die in das internationale oder vielmehr fran-
zösische Zeitalter der Aufklärung zurückreichen,
so die skandinavischen, die wohl an dem Literatur-
leben der letzten zwei Jahrhunderte Anteil ge-
nommen hatten, ohne jedoch ähnlich Bedeutendes
hervorbringen zu können wie in den glorreichen
Tagen der Saga. Später als die anderen Länder
im Süden, Norden und Osten traten Holland
und Belgien in die grosse Bewegung ein. Sie
waren die letzten innerhalb des neunzehnten
Jahrhunderts, die eine Wiedergeburt ihres natio-
nalen Schrifttums erleben durften. Es mochte
wohl sein, dass auf ihnen besonders schwer der
Bann der Überlieferungen lag und dass diese
ihnen um so teuerer waren, als ihr Ursprung
mit der Heldenzeit des Kampfes um die Freiheit
zusammenfiel. Die Niederlande hatten bereits
eine Art klassische Literatur, die ihnen fortan
Muster blieb. Aber es war keine jener Blüte-
Epochen, deren Knospen in späteren Zeiten
Frucht tragen, wenn ihre Blüten längst verwelkt
sind; es war eine unfruchtbare Zeit, die ihre
besten Kräfte im Dienste der Anlehnung an
fremde Vorbilder, der Nachahmung verbrauchte.
Der Einssuss des elizabethinischen England war
stark, aber weit stärker noch jener der Franzosen,
zuerst der Plejadendichter, dann der grossen
Dramatiker am Hofe des Sonnenkönigs. Es
ist wohl begreiflich, dass noch heute ganz
Holland voll ist von dem Ruhm eines Hooft,
Bredero und Vondel, der fremde Kenner aber
wird in ihren Werken gerade das Wesentlichste

vermissen: die Volkstümlichkeit im edelsten
Sinne. Betrachtet man nun die Entwicklung
der anderen jung entstandenen Literaturen, so
bemerkt man leicht, wie erst — unter dem Ein-
ssüsse der Romantik — der Nationalismus rein
stofflich gefasst wird; man behandelt die Helden-
sagen seines Volkes, aber, charakteristisch genug,
in Formen, die man anderen Literaturen ent-
nommen hat. Allmählich erst kam die Erkenntnis,
dass die echte Volkstümlichkeit tiefer ihre Wurzeln
haben müsse. Der Naturalismus brachte sie
mit seiner Forderung strenger Wirklichkeit, die
allenthalben die Dichter veranlasste, ihr eigenes
Land und das Volk, in dessen Mitte sie lebten,
zu erforschen. Den Niederlanden blieb diese
Entwicklung erspart. Es trat in seine moderne
Literatur ein mit einer Gruppe von jungen Feuer-
geistern, die, als sie die Forderung des Natura-
lismus nach Wahrheit und nichts als Wahrheit
auch zu der ihren erhoben, reich genug waren,
um nicht von ihm abhängig zu werden. Kam
der Naturalismus von Frankreich, so kam noch
ein anderer Einssuss von England hinzu, so dass
sich hier die doppelte Einwirkung wie einst im
siebzehnten Jahrhundert scheinbar wiederholte,
von dem weniger starken deutschen Einschlag
ganz abgesehen. In England waren um die
Jahrhundertsmitte die Prärafaeliten aufgetreten
mit der gleichlautenden Forderung nach künst-
lerischer Wahrheit. Aber nicht wie die fran-
zösischen Naturalisten in dem äusseren Leben,
sondern in dem inneren Erleben suchten sie
diese. ,,By thine own tears thy song must
tears beget!“ rief Dante Gabriel Rossetti, der
Gründer der prärafaelitischen Brüderschaft und
als Maler-Dichter ihr hervorragendster Genius,
den Sängern zu. Die beiden Forderungen, wie
Engländer und Franzosen sie aussprachen, ver-
eint, liessen eine Kunst entstehen, für die das
Ich selbst das nächste Objekt war, mit einem
Worte, den Individualismus. Aber dieser sowohl
als auch ebenso die eigentlichste Art des hollän-

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