Das sogen. Paradies im Dom zu Münster.
Der Stil der Statuen selbst ist voll grossartiger, wenn auch etwas strenger Haltung,
voll feierlicher Würde, voll jener fest in sich geschlossenen hehren Ruhe und
Objektivität, die sich von dem weichen, mehr individuellen, innerlichen Gefühls-
leben der gotischen (germanischen) Skulptur so scharf unterscheidet. In den Köpsen
macht sich eine entschiedene Ausprägung des Individuellen, bei aller Strenge der
Ausfassung, geltend, und die Gewandung, voll reicher, wechselnder Motive, ist zum
Teil von fast antiker Schönheit. Es zeigt sich in ihr das aus der antiken Kunst
herübergenommene Streben, die umhüllten Körperformen erraten zu lassen, während
die germanische Skulptur sich des Gewandes bedient, um den Körper zu verdecken.
(Lübke.)
Indes begnügte das einmal
erwachte Streben nach größe-
rer Zierlichkeit der Anlage sich
nicht mehr mit den Pfeiler-
bauten; vielmehr findet um die-
selbe Zeit ein bemerkenswertes
Wiederaufnehmen der srüher
nur selten angewandten Säule
statt. Dies geschieht in der Art,
daß sür die Gewölbstützen des
Mittelschiffs der Pfeiler mit sei-
ner Pilastervorlage beibehalten,
der zwischengestellte niedrige
Arkadenpfeiler dagegen durch
eine Säule ersetzt wird. In
dieser Anordnung legt sich die
Konstruktion in treffender Weise
mit feinem Verständnis dar;
denn die kräftigen Pfeiler ent-
sprechen in eben dem Maße
ihrer höheren statischen Be-
deutung, wie die leichteren,
eleganteren Säulen ein Aus-
druck ihrer untergeordneten
Funktion sind. Noch zierlicher
indes und lebendiger wird die
Wirkung, wenn anstatt der einen
Säule zwei schlanke, feine Säul-
chen nebeneinander geordnet
werden, um mittels gemein-
samer Deckplatte der Wucht
des Arkadenbogens zu begeg-
nen. So gebräuchlich eine solche Anordnung
allwärts an Galerien, Kreuzgängen und bei ähn-
lichen kleineren Verhältnissen ist, so wenig
kommt dieselbe in der beschriebenen Anwen-
dung anderswo vor. Ohne Zweifel ging sie aus
den unbedeutenden Dimensionen der dahin ge-
hörigen Kirchen hervor. Ordnete man in diesen
Einzelsäulen an, so mußten dieselben bei geringer
Kämpferhöhe übermäßig plump gebildet werden,
um der auf ihnen ruhenden Last genügende Trag-
kraft entgegenzusetzen. Immer aber blieb die
Vermittlung der schlanken Säule mit dem breiten
Arkadenbogen trotz kräftiger Kapitäle und stark
ausladender Kämpfergesimse und Deckplatten eine
gar zu gewaltsame. Daher scheint man auf diese
graziöse Anordnung verfallen zu sein, die ich in
Westfalen an sechs Kirchen, an denen zu Boke,
Hörste, Verne, Delbrück, Böle und Opherdicke
gefunden habe.
Die Säulen boten nun auch der sich mehr
und mehr regenden Skulptur Gelegenheit zu
zierlicher Ornamentschöpsung; teils liebte man,
die kubische Form des Kapitäls mit aufgemeißel-
tem Linien- oder Blattwerk zu zieren, teils ging
man zu einer weicheren Kelchform über, die
man mit Pssanzenornamenten ausstattete. Doch
war jene erste Art der Dekoration mehr eine
bekleidende, während die andere bemüht war,
aus dem Kern des Kapitäls gleichwie durch in-
nere Triebkraft das Blattwerk hervorsprießen zu
lassen. Beachtenswert ist, daß Tier- und aben-
teuerliche Untierbildungen in dieser Epoche der
westsälischen Ornamentik selten sind; ein Um-
stand, der sich aus der mehr klar verständigen,
als phantastisch erregbaren Sinnesart des Volks-
stammes erklärt.
Deutete schon der Wechsel von Pfeiler und
Säule den Organismus des Bauwerkes vor, so
entsprach die Bedeckungsart der Räume durch-
aus dem angeklungenen Prinzip. Alle Bauwerke
dieser Klasse nämlich sind in Westfalen von
Anfang an gewölbt, und es läßt sich, so weit
meine Kunde reicht, hier kein Werk dieser Art
mit ssacher Decke nachweisen, während in an-
deren Gegenden, namentlich in Niedersachsen,
eine nicht unbeträchtliche Anzahl solcher Misch-
basiliken mit anfänglich ssacher Bedeckung vor-
kommt. Dies ist als bedeutsamer Fortschritt
im künstlerischen Leben des Landes zu be-
trachten; denn man suchte hier im Wechsel
von Säulen und Pfeilern nicht mehr die bloß
malerische Wirkung, sondern man erkannte die
konstruktiven Gesetze, auf welche diese Anord-
nung mit Notwendigkeit hinwies.
Während jene höhere Entwicklung vor sich
ging, bereitete sich zugleich eine andere bau-
liche Richtung vor, die in größter Schnelligkeit
sich über ganz Westfalen ausdehnte und nach
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