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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 10.1905

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Nr. 11
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Kühl, Gustav: Bruckner
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Schur, Ernest: Betrachtung
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Kühl, Gustav: Unsere Musikbeilage
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https://doi.org/10.11588/diglit.26235#0234

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BRUCKNER.

andern hinzuleiten. Er ist wie ein Kind:
unverraittelt, von einer neuen Idee geblendet,
springt er über. Ein Glück für ihn und uns, daß
die Grundform der Symphonie schon feststand,
so daß er einen Halt hatte; und ein Wunder, daß
er nun in dieser Form, trotz jenes Mangels,
Sätze von ganz ungeheuren Ausdehnungen schuf,
ja in seiner Weise dennoch eine neue musi-
kalische Architektonik begründet hat. Wir
nennens Impressionismus: bei Bruckner eine
einfache Folge seiner kindlichen Schlaffzügelig-
keit, die durch die Gewohnheit des Orgelspiels,
wo ihm in jedem Augenblick alle Register zur
Verfügung standen, noch unterstützt wurde.

Stendhal sagt im Hinblick auf Mozart: Un
grand artiste se compose de deux choses: une

ETRACHTUNG.*

Von ERNST SCHUR.

Was ist Kultur?

Und was soll das ewige Reden von Kultur?
Was soll das naserümpfende Betrachten
des Ästheten?

Renaissance, Antike und Christentum,

all die tüftelnden Untersuchungen der Gelehrten,

all die naseweisen Formeln der Dichter,

die nur auf Wissen beruhen

und angelesener Gelehrsamkeit,

mit der sie vor der Masse prunken —

Wiederkäuer der Entwicklung!

Hier ist die Gegenwart!

Hier ist der Platz zum Ringen!

*

Was ist Natur?

Und was soll das ewige Reden von Natur?
Kultur und Natur — beides sind wir.

Und von uns und unseren Werken
sei die Rede!

Was sollen die idyllischen Rückblicke?

Und was soll die Sehnsüchtelei?

Und das dumpfe Behagen in der Enge
der vier Pfähle? Blickt hinaus —
da wogt das Flammenmeer des Lebens!

Hier ist Gegenwart!

Hier ist der Platz zum Ringen!

*

Es gibt für dich nur einen Stern.

Der heißt: Erde!

Mit Steinen, Pflanzen, Mensch und Tieren

und mit dem Sinn

des ewigen Ineinander Übergehens.

Es gibt für dich nur eine Zeit.

Die heißt: Gegenwart!

Mit Haß und Mord

und Liebe und Feindschaft und Wollust —
und der tiefen Schönheit des Ausgleichs.

Es gibt für dich nur ein Leben.

Das heißt: Kampf!

Rastlose Betätigung der Kräfte!

* Aus: Ernst Schur, „Die steinerne Stadt“. Selbstverlag.
Siehe die Besprechung am Schluss dieses Heftes.

äme exigeante, tendre, passionnee, dedaigneuse,
et un talent qui s’efforce de plaire ä cette äme,
et de lui donner des jouissances en creant des
beautes nouvelles. Das Wort ist wie auf Bruckner
gemünzt. Das Spielen und Komponieren war
ihm ein frommer Selbstgenuß. Im reinen
Glauben eines gottgefälligen Tuns verlor sich
der weltverlassene und verspottete Mann hor-
chend in den himmlischen Klängen, die ihm
sein Herz offenbarte, und spielte damit in seiner
wunderbaren Kontrapunktik, kaum anders als
die Musa in Kellers Tanzlegendchen der Ma-
donna in der Kirche ihr Tänzchen darbringt.
Sein Schaffen war Lust und Gottesdienst zugleich.

Gott hat es ihm belohnt! Mit der Märtyrerkrone.

Der Dieb und der Mörder,
die auf Beute und Zerstörung ausgehen,
stehen höher als der, der in satter
Bequemlichkeit die Hände in den Schoß
legt, nichts tut, nichts denkt,
dumpfer als ein Tier vegetiert.

Da gleichst du der Maschine —

am blanksten funkeln die Teile,

die in immerwährender Bewegung sind.

*

Stell dich auf den vordersten Platz!

Da wo am heißesten gerungen wird.

Wo das Menschliche am heftigsten
in Frage gestellt und die Helle am tiefsten
verdunkelt wird — da stell dich hin!

Ohne Gelehrsamkeit und ohne Tüftelei!

Ohne Formeln und ohne die geprägten Worte!
Ohne die ewige, endlose Variation
des Wissens.

Hier ist die Gegenwart.

Es gab nichts Größeres als die Gegenwart.
Alles andere ist in Nacht versunken
und vergessen.

Hier ist der Platz zum Ringen.

Bist du schwach? Egoistisch?

Sehnsüchtelnd? Und genießend?

Nie war der Kampf so heiß.

Keine Vergangenheit hat so
allseitig gestritten.

Wer dieser Gegenwart entflieht,

wird nicht einmal Vergangenheit gewinnen.

Wer klüglich sich beiseite stellt,

wird nur das eigene Ich entdecken,

wird schelten, klagen, und verächtlich tun,

mit eingebildeten Gespenstern schrecken.

Dabei nur sich im Auge haben,

seinen Vorteil, seine Geltung, seinen Ruhm.

Was ist im Weltall Ruhm des Einzelnen?
Verliere dich, dann wirst du dich gewinnen.
Dich und die tieferen Gesetze!

Hier ist die Gegenwart.

Hier ist der Platz zum Ringen.

Stell dich in die vorderste Reihe!

Stell dich an den vordersten Platz!

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