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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 11.1906

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Heft 2
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Hesse, Hermann: Eine Fussreise im Herbst, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.26233#0095

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M. H. Steinhausen.

INE FUSSREISE IM HERBST.

Von HERMANN HESSE.

SEEÜBERFAHRT.

Ein sehr kühler Abend, feucht, ungastlich
und früh dunkelnd. Auf einem steilen Sträßlein,
zum Teil lehmiger Hohlweg, war ich vom
Berge herabgestiegen und stand am Seeufer
allein und fröstelnd. Nebel rauchte jenseits
von den Hügeln, der Regen hatte sich erschöpft
und es fielen nur noch einzelne Tropfen, kraft-
los und vom Winde vertrieben.

Am Strande lag ein flaches Boot halb auf
den Kies gezogen. Es war gut im Stande, sauber
gemalt, kein Wasser am Boden, und die Ruder
schienen ganz neu zu sein. Daneben stand
eine Wartehütte aus Tannenbrettern, unver-
schlossen und leer. Am Türpfosten hing ein
altes messingenes Horn, mit einer dünnen Kette
befestigt. Ich blies hinein. Ein zäher, un-
williger Ton kam heraus und flog träge dahin.
Ich blies noch einmal, länger und stärker.
Dann setzte ich mich ins Boot und wartete, ob
jemand käme.

Der See war nur leicht bewegt. Ganz kleine
Wellen schlugen mit schwächlichem Klatschen
an die dünnen Bootwände. Mich fror ein
wenig und ich wickelte mich fest in meinen
weiten, regenfeuchten Mantel, steckte die Hände
unter die Achseln und betrachtete die Seefläche.

Eine kleine Insel, dem Anscheine nach nur
ein stattlicher Felsen, ragte in der Seemitte
schwärzlich aus dem bleifarbenen Wasser.
Ich würde, wenn sie mein wäre, einen Turm
darauf bauen lassen, mit wenigen Zimmern
und quadratischem Grundriß. Ein Schlafzimmer,
ein Wohnzimmer, ein Eßzimmer und eine
Bibliothek.

Dann würde ich einen Wärter hineinsetzen,
der müßte alles in Ordnung halten und jede
Nacht im obersten Zimmer Licht brennen.
Ich aber würde Weiterreisen und wüßte nun
zu jeder Zeit eine Zuflucht und Ruhestätte
auf mich warten. In fernen Städten würde
ich jungen Frauen von meinem Turm im See
erzählen.

„Ist auch ein Garten dabei?“ würde viel-
leicht eine fragen. Und ich: „Ich weiß nicht
mehr, ich war so lange nimmer dort. Wollen
Sie, daß wir hinreisen?“

Sie würde mir mit dem Finger drohen und
lachen, und der Blick ihrer hellbraunen Augen
würde sich plötzlich verändern. Möglich auch,
daß ihre Augen blau sind oder schwarz, und
ihr Gesicht und Nacken bräunlich, und ihr
Kleid dunkelrot mit Pelzbesätzen.

Wenn es nur nicht so kühl gewesen wäre!
Eine unangenehme Verdrießlichkeit wuchs in
mir herauf.

Was geht mich die schwarze Felseninsel
an? Sie ist lächerlich klein, wenig besser als
ein Vogeldreck, und man könnte auf ihr über-
haupt nicht bauen. Wozu auch, bitte? Und
was liegt daran, ob eine junge Frau, die ich
mir erdenke und der ich möglicherweise, falls
sie wirklich existierte, mein Turmschloß zeigen
würde, falls ich eines hätte — ob diese junge
Frau blond ist oder braun und ob ihr Kleid
einen Pelzbesatz hat oder Spitzen oder ge-
wöhnliche Litzen? Wären mir Litzen etwa
nicht gut genug?

Gott bewahre, ich gab den Pelzbesatz, den
Turm und die Insel preis, rein um des Friedens
willen. Meine Verdrießlichkeit kassierte die
Bilder mürrisch, schwieg und nahm zu statt ab.

„Bitte,“ fragte sie nach einer Weile wieder,
„wozu sitzest du eigentlich hier, an einem welt-
fremden Ort, in der Nässe am Strand und frierst?“

Da knirschte der Kies, und eine tiefe Stimme
rief mich an. Es war der Fährmann.

„Lang gewartet?“ fragte er, während ich
ihm das Boot ins Wasser schieben half.

„Gerade lang genug, scheint mir. Jetzt also
los!“

Wir hängten zwei Paar Ruder ein, stießen
ab, drehten und probierten den Takt aus, dann
arbeiteten wir schweigend mit starken Schlägen.
Mit dem Erwärmen der Glieder und mit der
flotten, taktfesten Bewegung kam ein anderer
Geist in mir auf und machte dem fröstelnd
trägen Unmut ein rasches Ende.

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