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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 12.1906

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Nr. 11
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Hesse, Hermann: Die Novembernacht
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https://doi.org/10.11588/diglit.26232#0241

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T^IE NOVEMBERNACHT.
JL-/ EINE TÜBINGER ERINNERUNG
von HERMANN HESSE.
Uber Tübingen hing eine schwarze, ver-
wöikte Novembernacht. Sturm und Sprühregen
kiirrte und zitterte durch die engen Gassen,
aufHackernde rote Laternenlichter glänzten trüb
auf dem nassen Pifaster wieder. Trüb und
schwarz mit zwei, drei kleinen roten Fenster-
augen lag das alte Schloß wie ein halbschlafen-
des träges Untier auf seinem langen Hügel,
Fetzen von Wolkenschleiern um die spitzen
Dächer. In den großen, ernsten AHeen standen
die alten Kastanien, Linden und Platanen kahl
und hager im Sturm wie eine trübselig stand-
hafte Armee von Greisen. Blätterwirbel trieben
über die feuchten Wege, faul und grau lagen
die großen Herbstwiesen, an den Rändern da
und dort von einer windscheuen Laterne zackig
und roh beleuchtet. Der langgezogene, müde
Pfiff des letzten Reutlinger Zuges drang vom
nahen Bahnhof durch die schwere Luft und
paßte mit seinem heiseren hinsterbenden Ge-
räusch vortrefflich in die Tonart des ganzen
Abends.
In den Pausen des Sturmes ward das kühle
Rauschen des Neckars laut. Die Ufer lagen
tief in graue, traurige Ruhe gehüllt und von
den vielen hellen, liederlauten Sommerabend-
festen war keine leise Spur mehr geblieben, so
wenig dem breiten traurigen Stiftsgebäude noch
eine Spur von den zahlreichen glänzenden
Geistern anhing, die darin vorzeiten schwär-
merische, dämmernde Jugendsemester verlebten.
Es seien denn einzelne nachklingende elegische
Laute aus der umßorten Harfe des armen
Hölderlin. Statt dessen brannte dort die strenge,
Heißige Gegenwart in zahlreichen Studierampeln
über die ganze Breitseite des Stifts verteilt und
glänzte mattrot durch die breiten, niederen
Fenster. Dort lagen jetzt Kompendien, Wörter-
bücher und Texte ohne Zahl vor ernsthaften
jungen Augen aufgeschlagen, Ausgaben des
Platon, Aristoteles, Kants, Fichtes, vielleicht
auch Schopenhauers, Bibeln in hebräischer,
griechischer, lateinischer und deutscher Sprache;
vielleicht brütete hinter diesen Fenstern zur
Stunde ein junges philosophisches Genie
über seinen ersten Spekulationen, während zu-
gleich ein zukünftiger, schwergeharnischter Apo-
loget die ersten Steine seines Trutzgebäudes
legte.
Zwei junge Männer, die jetzt von der unteren
Neckarbrücke her durch die Platanenallee ge-
gangen kamen, blickten lachend hinüber und
zeigten wenig Respekt vor der ernsten zukunft-
schwangeren Geistesburg. Sie wandelten in
grauen Lodenmänteln des Regens ungeachtet
langsam durch die stürmende Herbstnacht.

,,Hast du noch was drin?" fragte der Kandidat
Otto Aber seinen Begleiter, worauf dieser, der
Dichter Hermann Lauscher, eine bauchige Bene-
diktinerßasche aus der Manteltasche zwängte
und dem Kandidaten reichte.
,,Der letzte Schluck!" rief dieser und schwenkte
die Flasche gegen das jenseits des Flusses
ragende Stift. ,,Prosit Stift!"
Er leerte die BouteiMe mit einem kurzen
Schluck.
,,Was machen wir mit dem Scherben?"
fragte Lauscher. ,,Wir könnten auf die Wache
gehen und ihn der lieben Tübinger Stadtpolizei
verehren."
,,Was Stadtpolizei!" lachte Aber. ,,Da!" und
er schleuderte die Flasche über den Neckar,
daß sie an einem Pfeiier des Stiftsbaues zer-
splitterte. ,.Jetzt wohin?"
,,Ja wohin?" sagte Lauscher nachdenklich.
,,In der Steinlach krepiert man am Wein, in
der Silberburg ist die Schorschel nimmer da,
im Kaiser säuft der Roigel, in der Sonne ists
zu voll, im Löwen —"
,,HaIlo, in den Löwen!" rief Aber. ,,Mir
tällt ein, daß der Säbelwetzer und der Elenderle
heut abend dort sind und die Mensur vom
Donnerstag verschwellen. Komm! Übrigens
ists ein Sauwetter."
Der Kandidat zog seinen langen Mantel enger
an sich und schlug ein rascheres Tempo an.
„Was rennst du?" rief Lauscher. „Für uns
ist das Wetter lang gut genug. Mir paßts so
besser, als Lump im Sonnenschein zu spielen.
Wenn der Benediktiner nicht ausgepßffen hätte,
wär ich für eine Naturkneipe. Außerdem ist
der Säbelwetzer langweilig und der Elenderle
wird schon bald wieder am Heulen sein. —
Trinken sie Uhlbacher? Dann geh ich nicht
mit, der Uhlbacher vom Löwen haßt mich.
Aber was versteht ihr von Wein!"
„Weinprotz!" lachte Aber. „Nein, sie haben
eine uralte Moselwette dort stehen, oder Winkler
oder was ähnliches. Jedenfalls was besseres. —
Dabei fällt mir ein: warum gründen wir eigent-
lich nichts? Wir vier oder fünf hocken doch
ewig zusammen, man könnte den Appenzeller
und so ein paar Bierhühner mitlotsen, es gäbe
so was wie eine Ausstellung der Zurück-
gewiesenen."
„Gründen?" brauste Lauscher auf, der da-
mals das spätere cenacle noch nicht ahnte.
„Lieber werd ich Eremit."
„Warum nicht gar! Es gäbe ein Kollegium
von Ausgetretenen aus allen fashionablen Ver-
bindungen oder von Rettungslosen aus allen
Fakultäten. Der Elenderle würde die Sünden-
last der Gesellschaft in Tränen umsetzen, der
Säbelwetzer bekäme ein Dauerpaukwams und
würde auf alle Waffen für uns losgehen, ich
wäre die Bierkommission, du Schrift- und Wein-
wärtel . . . ."


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