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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 14.1907

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Heft 12
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Wilisch, Toni: Spittelers Prometheus und Nietzsches Zarathustra
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https://doi.org/10.11588/diglit.26457#0216

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Prometheus und
Nietzsches Zarathustra.
„Prometheus und Epimetheus" von Carl Spitteler
erschien in seinem ersten Teil im Jahre I88O vordatiert 81,
im zweiten Teil 1881 vordatiert 82.
Der erste Plan zu Zarathustra entstand im August 1881.
Das Buch wurde niedergeschriebcn in der ersten Hälfte
Februar 1883.
Doktor August Horneffer, der eine Zeitlang bei der
Herausgabe von Nietzsches hinterlassenen Manuskripten
beschäftigt war, schreibt über die Entstehung des Zara-
thustra („Nietzsche als Moralist"): „Im Jahre 1882
hatte Nietzsche eine große Sammlung gut geschliffener
Sprüche in ein Heft zusammengeschrieben und wollte
sie als Sentenzenbuch Herausgeber!. Über die Gestaltung
dieses Buches war er noch nicht im klaren.
.... Zugleich aber (schon seit dem Sommer 81) erwog
Nietzsche den Plan, ein großes Werk zu verfassen, das
die Figur des Zarathustra als Mittelpunkt haben sollte. . .
Dessen Gestaltung war auch noch nicht klar; zeitweilig
war eine einfache prosaische Ausführung geplant. . .
Dann aber, gegen Ende deS Jahres 82, trat ziemlich
plötzlich der Plan des Zarathustra in der heutigen Ge-
stalt hervor..... Das Sentenzenbuch wurde aus-
gegeben; cs mußte den Stoff für den Zarathustra
hergeben."
ES steht also fest: erstens, daß Nietzsche lange Zeit
hindurch vergebens nach einer geeigneten Form für sein
Buch gesucht hat; zweitens, daß der Zeitpunkt, da sich
ihm die jetzige Form deö Zarathustra offenbarte, genau zu
dem Datum stimmt, da Prometheus im Druck zirkulierte.
* *
Peter Gast, der bekannte Freund und Schüler
Nietzsches, schreibt in seinem Nachwort zu Zarathustra:
„Nietzsche ist Zarathustra selbst. Er rang viele Jahre,
dies Bild außer sich hinzustellen. Zumal die Form,
in der es geschehen sollte, mußte ihm in einem Zeitalter,
das allem Selbstherrlichen abhold ist, Schwierigkeiten
machen — bis er denn die jetzige Form fand, die ihm
erlaubte, in der dritten Person alles Das zu sagen, was
er von sich selbst zu sagen hatte."
Die Form, von der Gast hier redet, ist aber die des
Prometheus: Spitteler ist mit der Hauptfigur seines
Buches identisch, so wie cs Nietzsche mit der Gestalt
seines Zarathustra sein will.
Über den Grundgedanken seines beabsichtigten Werkes
äußerte sich Nietzsche in einem erhalten gebliebenen ersten
Plan zu Zarathustra unter anderem folgendermaßen:
„Erstes Buch: . . . Prometheus wird an den
Kaukasus angeschmiedet."
„Drittes Buch: . . . „Vom letzten Glück des Ein-
samen"— das ist der, welcher auö dem „Zugehörigen"
zum Selbsteigenen des höchsten Grades geworden ist:
das vollkommene s^o."
SpittelerS Prometheus entwickelt den gleichen Ge-
danken : auch hier handelt es sich um den „Selbsteigcnen
des höchsten Grades", der nicbt dem Gewissen der Menge
gehorcht, sondern einzig den Geboten der eigenen Seele.

Die Menge bildet hier wie dort den Gegensatz zur
großen freien Persönlichkeit. Beide Bücher entwerfen
nun übereinstimmende Schilderungen dieser Menge, das
eine in Bildern und dichterischer Erzählung, das andere
in Sprüchen und abstrakten Urteilen. Hier und dort
bekunden „die Vielen" dieselbe Wertungsweise, dieselben
Anschauungen. Hier und dort findet sich bei ihnen
dasselbe Wohlbehagen in der Gewöhnlichkeit, die gleiche
krumme, niedrige, nur auf das Materielle gerichtete
Denkungsart, das gleiche „billige Gewissen , „welches
väterlich gestattet den Instinkt und gegenseitigen Eigennutz ,
dieselbe „bescheidene Tugend", die sich mit Behagen
wohl verträgt, ja, es wohl gar noch fördert, -Lue
„Vielen" beider Bücher fühlen sich von der Gegenwart
des Großen, „Selbsteigenen" bedrückt, in beiden Büchern
wird erzählt, daß sie „stumm werden", wenn er zu
ihnen tritt. Sie empfinden vor ihm Scheu und Ab-
neigung. Dennoch fügen sie sich im entscheidenden Falle
seinem überlegenen Willen, denn sein natürlicher Berus
ist cs zu herrschen, der ihre aber zu gehorchen.
Beide Bücher berichten von Lehrern des Volks.
Dieselben verkünden die gleiche althergebrachte Weisheit,
eine Weisheit, welche „vom Volke stammt". Sic lehren
das, was Spitteler nennt „die ewigen Begriffe", eine
Belohnung des Guten, eine Bestrafung des Bösen.
Beiden Büchern sind sie gleicherweise ein Gegenstand
des Spottes.
So zahlreich und augenfällig sind diese inhaltlichen
Übereinstimmungen, daß inan eine Zeitlang, das be-
kanntere Buch unbedenklich für daö ältere nehmend,
Spitteler einen Schüler Nietzsches nannte und Richard
W. Meyer in der ersten Auflage seiner Literaturgeschichte
sogar die Behauptung aussprach, Prometheus enthalte
Entlehnungen aus Zarathustra.
* *
*
Ebenso auffallend ist die Ähnlichkeit der Sprachform.
In Prometheus und Zarathustra wird der hieratische
Stil verwendet. In beiden Büchern finden wir die
poetische Prosa, die aber doch eine Einteilung in Verse
erkennen läßt. Wenn SpittelerS Buch durchgängig in
Rhythmen geschrieben ist, so versucht dasjenige Nietzsches
sich wenigstens stellenweise auch in dieser Eigentümlichkeit,
besonders gegen das Versende hin, und dort findet sich
alsdann in weiterer Übereinstimmung mit Prometheus
zum letzten Abschluß häufig ein Trochäus, mitunter auch
ein Spondeus.
Bei Nietzsche erscheint die Hieratik fremd wie eine
Verkleidung. Die Wahl gerade dieses Stils ergibt sich
weder auS seinem Bildungsgang, noch drängte ihn seine
Veranlagung ganz besonders nach dieser Richtung. So
finden sich denn auch in keinem andern seiner Bücher
Anklänge an die Sprachform des Zarathustra, ja er
führte diese Form nicht einmal in diesem Werke ein-
heitlich durch.
Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Spitteler.
Nicht nur sein Bildungsgang wies ihn aus die Hieratik
hin, sondern vor allein auch seine Veranlagung. Für ihn,
den Dichter der Übcrwelt, den Visionär, dessen Phantasie
alle Dinge, auch die abstraktesten, plastisch gestaltete,
mußte der bilderschwere hieratische Stil ein natürliches
 
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