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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 18.1909

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Heft 8
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Lissauer, Ernst: Über Agnes Miegel
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https://doi.org/10.11588/diglit.26461#0083

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Übcr Agncs Miegel.

Rechte streift segnend den Rosenkranz aus Aphrodites
rotem Scheitel.

Die Art des Anödrucks cntspricht diesem Gegensatz.
Aus dcn Gedichten bricht eine suggestive Leidenschaft,
aber es muß betont werden, daß an dieser machtvollen
Eindringlichkeit cben die traditionclle Form großen An-
teil hat. Diese Art der Sprache findet uns in hohem
Maße vorbereitet, und die mcnschliche Elemcntarkraft
der Dichterin hat es leichter sich in dieseu zubereiteten
und bequem zu handhabcnden Formcn zu vcrmitteln,
alö wcnn sie nach eincr neueren, eigeneren Prcizision
und Wucht des Auödrucks strebte. Hicrvon aber ist
Agneö Miegcl wcit entsernt. Jhre Balladen rollen
ost in den üblichen viergetcilten Daktylen daher; scltcne,
starktönende Namen von Geschlechtern und Ländcrn
wcrdcn nach dem Brauch dcr Tradition wie Erz-
stückc in das kochcnde Schmiedseucr dcr Ballade ge-
worsen; viele ihrer Gedichte sind gänztich von Storms
Naturlyrik beeinflußt, sein Wort von der roten Rose
Leidcnschast wird unbewußt zitiert, sein herrliches Dämmcr-
gcdicht „Gartenspuk" wird in dem Gedicht „Dämmer-
spuk" bis in Einzelheiten nachgeahmt; mit Gedichten,
die von Carl Bufie beeinflußt sind, defien Lyrik selbft
nur Konvention und Nachahmung ist, kommt ein süß-
licherer Farb- und Klangton Geibelscher Herkunft in ihre
Versc; die fcuer- und sarbenstarken Rhythmen dcr
Schönaich - Carolathschen Don Juan- und Sphinr-
Dichtungcn klingen in Gesängen wie „Santa Cäcilie"
und dem „Fragment" nach; das Gedicht „Jane" mit
seinen lockeren, fast plaudernden Rhythmcn könnte in
Fontanes englischcn Balladen ftehcn. All dies beweist,
daß die Dichterin nicht naiv ist im Sinne künstlcrischer
Unbcrührtheit, nur ist ihr die zeitgenöfiische Lyrik un-
bekannt geblieben, oder sie hat nicht aus sie eingewirkt.

Man kann die eigentlichen Leistungcn der modernen
Lyrik verhältnisniäßig gering bewertcn und muß dennoch
betonen, daß sie eine Fülle von Anregungen geschaffen
hat, deren wir heute nicht mehr entraten können. Die
Moderne wirkte im wesentlichen analytisch; aber eine
Synthese kann nur dann im Tiefften sruchtbar und
dauernd sein, wenn sie jcne analytischcn Kräste und
Werte verarbeitct hat. Agnes Miegel besitzt, was der
Modcrne mangelt, eine Fähigkeit zur Form und jenen
konservativen Geift, dcr sich ausö Allgemeine richtet
und des Sinneö für daö Gewordene nicht cntbehrt.
Aber es mangelt ihr jenc Differenzierung und Nuan-
cierung des Gefühles und der Sprache, welche in diesen
Ieiten erworben wurde. Sie hat die Synthese und
Tradition; die Moderne hat die Analyse und die Difie-
renzierung: auS dem Zusammenschluß dieser beiden
Elemente erft kann die neue Synthcse erwachsen, um
die heute gerungen wird.

Agnes Miegel ist an sich ein so großes dichterischcs
Talent, daß man sie trotz ihrer wesentlichen epigonischen
Züge nicht ausschließlich eine Epigonin nennen kann.
Unter der Mcnge der sprachlich unerlebten stehen bis-
weilen durchaus eigentümliche, mächtige. Rhythmen, und
die Bilder tretcn groß und reich aus ihrem Haupte:
„wie Bienenbrausen" vernimmt Heinrich von Plauen
daS Rauschen der Ostsee; mondbeschienene Eisschollen
treiben, „wie hungrige Wölfe, verwunschen und weiß".

am Styx zieht der Borgia schändlich Haus dahin, „ge-
drängt um der Lucrezia perlenblaffe fahlblonde Schön-
heit — wie die dunkle Traube schwärmendcr Bienen
um die Königin."

In einem ihrer letzten Gcdichte beginnt Agncs
Miegel die traditionelle Strophe auszulösen. Dieö Ge-
dicht, in dem ihre Form am selbständigsten ift, ist
bezeichnenderweise ihr beftcs Gedicht, die Ballade von
der „schönen Agnete":

„Als Herrn Ulrichs Witlib in der Kirche gekniey

da klang vom Kirchhof herüber cin Lied,

die Orgel droben, die hörte auf zu gehn,

die Priester und die Knaben, alle blieben stehn,

es horchte die Gemeinde, Grcis, Kind und Braut,

die Stimme draußen sang wie die Nachtigall so laut:

„Liebste Muttcr in dcr Kirchc, wo des Mcßners Glöcklein klingt,

liebe Mutter, hor, wie draußen deinc Tochter singt,

denn ich kann ja nicht zu dir in dic Kirche hinein,

dcnn ich kaun ja nicht mehr knien vor Maricns Schrein,

denn ich hab ja vcrloren die ewige Seligkcit,

denn ich hab ja den schlammschwarzen Wassermann gefreit.

Mcine Kindcr spielen mit den Fischen im Sce,

meine Kinder haben Floffen zwischen Finger und Zeh,

kcine Sonne trocknet ihrer Perlenkleidchen Saum,

meiner Kinder Augen schließt nicht Tod noch Traum . . . .

Licbste Muttcr, ach, ich bittc dich,

liebste Mutter, ach, ich bitte dich flehentlich,

wolle betcn mit deinem Ingcsind

für meine grünhaarigen Nixenkind,

wolle beten zu den Heiligcn und zu unsrer Licben Frau

vor jedcr Kirche und vor jedem Krcuz in Feld und A»!

Liebste Mutter, ach ich bittc dich schr,

alle sieben Iahre einmal darf ich Arme nur hicrher,

sage du dem Priester nun,

er soll weit auf die Kirchentüre tun,

daß ich sehen kann der Kerzen Glanz,

daß ich sehen kann die gllldcne Monstranz,

daß ich sagen kann meinen Kindcrlein,

wie so sonnengolden strahlt des Kelches Schein!"

Und die Stimme schwicg. Da hub die Orgcl an,

da ward die Türe weit aufgetan, —

und das ganze hcilige Hochamt lang

cin wcißes, weißcs Wasser vor der Kirchentüre sprang."

Hier hat sich die Dichterin von der traditionellen
Strophe und teilweis auch von der üblichen Balladen-
sprache besreift und dennoch ist die Form geschlossen
und sest. Der wachsende und abschwellende Gesang ist
von einer unendlichen Kraft der Jnnigkeit — seltcn
ward wohl leidcnschaftlicher gcbeten und gebetet alö in
den Zeilen: Liebste Mutter, ach, ich bitte dich, liebste
Mutter, ach, ich bitte dich flehentlich, — und am Schluß
wächst das Gedicht zu einer Größe der visionären
Kraft, wie sie heute in Deutschland selten ist.

Ob Agnes Miegel etwas von jencr sprachlichen Ver-
feinerung in sich auszunehmen vermag, steht dahin, und
eö ist zweiselhaft, ob es sür sie notwendig ist. Aber
das scheint unabwcislich nötig, daß sie ihre großen
Reichtümer mit hellerem Bewußtscin verwalte, und
daß sie sich über daö Verhältnis der Gegenwart zur
Tradition klarer werde alS bisher.

Die sie in die Literatur eingeführt haben, waren
im wesentlichen reaktionär gerichtete Männer, deren
Einfluß die konservativen Anlagcn ihres TalentcS so
bestärkten, daß sie selbst ost künftlcrisch reaktionär, nach-
ahmerisch wirkt. Der wahre geiftige Konservativiömus

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