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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 22.1912

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Heft 6
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Lissauer, Ernst: Das Problem der literarischen Konvention und die Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.26494#0223

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as Problem der literarischen
Konvention und die Gegenwart.

Es ist bezeichnend, daß unsere Sprache sich ge-
wöhnt hat, das Wort „konventwnell" in einem aus-
schließlich tadelnden Sinne zu brauchen; teilweise für
Handlungen und Fragen der Sitte und des geselligen
Verkehrs, sehr viel mehr aber für Erzeugnisse des Schrift-
tumS und der Künste. Der Begriff der literarischen
Konvention ist uns vollkommen verloren gegangen,
und wir sehen den Wert einer künstlerischen Leistung
nur noch in ihreni individuellen und subjektiven Gehalt.
Diese Tatsache ist Teil und Folge jener individualistischen
Strömung, die seit Jahrhunderten das europäische
Geistesleben durchflutet und politisch Liberalismus,
wirtschaftlich Kapitalismus, religiös Protestantismus
heißt. Die Einrichtungea "des Deutschen Reiches sind
großenteils liberal gedacht; der Kapitalismus blüht
bei uns und bestimmt wesentlich die Notwendigkeiten
unserer auswartigen Politik ins Jmperialistische und
Erpansive; Preußen, die Vormacht, ruht auf pro-
testantischen Grundlagen.

Aber seit Jahrzehnten hat eine Gegenbewegung
eingesetzt, und, so verschieden die konservative und die
sozialistische Weltanschauung sind: genieinsam ist ihnen
der Gegensatz zuni Liberalismus. Beide sehen nicht
im Jndividuum den alleinigen Träger der Politik,
sondern sie wissen, daß über den Jndividuen über-
persönliche Gebilde bestehen, daß sie mehr bedeuten
als Summierungen ihrer Teile, und daß sie die aus-
schlaggebenden Faktoren der Geschichte sind. Man
kann dieser Front des Sozialismus und Konservatis-
mus gegenüberstellen die Front des Liberalismus und
Anarchismus: der zweite ist nur die Konsequenz des
ersten, der eigentliche Liberalismus ist, in seinem Kerne,
bürgerlicher Anarchismus. Und weil dies ein Widerspruch
in sich selbst ist, daruni ist der Liberalismus nie eigentlich
zur Herrschaft vorgedrungen, sondern immer nur großes
Postulat und segensreiche Jdee geblieben. Darum
erweisen sich die Widersprüche seiner grundlegenden
Jdee beständig auch in seiner religiösen Organisation,
der protestantischen Kirche. Wie es sich wiederum beim
Falle Jatho gezeigt hat: seine Ausstoßung aus der Kirche
ist ein Widerspruch gegen die Freiheit der Lehre und eine
Versündigung gegen den Geist ihres eigenen Ursprungs,
anderseits ist eine Kirche ohne bestinimte Grenzen
der Lehre nicht denkbar: Luther selbst ist, schon wenige
Jahre nach Beginn der Reformation, mit Grund, der
wittenbergische Papst genannt worden.

Ebenso steht es mit der politischen Organisation:
die vielfältige Aerspaltenheit des Liberalismus war die
Folge seiner atomistischen Grundidee, und erst als er
soziale Jdeen aufnahm, vermochte er sich von neuem
zu binden; doch auch heute ist er in drei Teile geschieden
(Fortschrittliche Volkspartei, in der Mitte; National-
liberale Partei, rechts; Demokratische Partei, links).
Hingegen sind die auf den Jdeen der Bindung ruhenden
Parteien, — hier der Bindung durch Glauben und
Autorität, dort durch Klassenbewußtsein und Freiheit —,
das Aentrum und die Sozialdemokratie, durch alle
inneren Gegensätze nicht gesprengt worden. Die politisch

unbeträchtliche Tatsache, daß von der Einigung des Libe-
ralismus sich wiederum eine Gruppe vornehmlich
Jntellektueller und Gebildeter (die Demokratische Ver-
einigung) ausgeschlossen hat, ist als geistiges Symptom
im höchsten Maße beachtenswert.

Am stärksten traf der Gegenstoß den Jndividualismus
dcs KapitalS. Die Fülle der sozialpolitischen und kapital-
dämmenden Maßnahmen, die in das Programm des
Liberalismus eingingen, versetzten ihn so stark mit
sozialen Elementen, daß von dem eigentlichen, dem
individualistischen, Liberalismus wenig übriggeblieben
ist und man von einer sozialliberalen Partei sprechen
müßte, wie Naumann auch das gegenwärtige Stadium
der wirtschaftlichen Entwicklung „sozialkapitalistisch" ge-
nannt hat.

Der Jndividualismus herrscht aber noch in anderen
Gebieten unseres geistigen Lebens.

Wenn hier nur von dem Schrifttum gesprochen wird —
um das teils stubenhaft angemuffelte, teils bohemehaft
angefaulte Wort: „Literatur" möglichst zu vermeiden —,
so ist der Grund nicht etwa, daß ähnliche Erscheinungen
im Bereich der Musik und der bildenden Künste fehlten;
aber das Schrifttum ist in besonderem Maße für das
geistige Leben einer Nation charakteristisch, weil es
nicht nur die gefühlischen, sondern auch die gedanklichen
Komplere umfaßt und kraft seiner Verhaftung in der
menschlichen Sprache niemals ganz reine Kunst sein
kann, wie Musik und Malerei: es ist zu einem kleinen
Teile stets „angewandte Kunst", wie es die Architektur,
der andere große Erponent geistiger Zustände und
Entwicklungen, zur Hälfte ihres Wesens ist.

Unsere Literatur ist vollkommen individualistisch ge-
worden. Jn der Politik hemmte der Staat, in der Reli-
gion die Kirche, im Schrifttum mangelten die hemmenden
Gebilde naturgemäß vollkommen. Das Asthetische,
das auf dem Empfinden beruht, entzieht sich aller Kon-
trolle und allen Regeln und ist mit dem Verstand und
mit Beweisen niemals zu fassen. Ohne jede Hemmung
hat sich diese individualistische Welle durchgebrochen.
Der Liberalismus, der bürgerliche Anarchismus, verlor
seinen bürgerlichen Einschlag, und es entstand der Anar-
chismus der heutigen Literatur.

Sie ist ein Chaos. Das Chaotische besteht nicht etwa
darin, daß sie Gegensätze birgt wie etwa dcn Kompler
Dehmel und den Kompler George, die — ich spreche
nicht von ihren künstlerischen Werten, sondern von ihren
symptomatischen Eigenschaften, — sich ergänzen, sondern
darüber hinaus besteht eine unübersehbare Wirrnis.

Die Masse der Schreibenden ist so groß geworden,
daß sie eine ganze Schicht bilden, die ihre eigene
Fühlweise, Terminologie, Moral besitzt. Eine deutliche
Kluft ist aufgetan zwischen dem Schrifttum und den
Aufnehmenden, den Literaten und den „Bürgern".
Es gibt Zeitschriften, die nicht Fachblätter sind in
dem Sinne, daß sie besondere wirtschaftliche oder
sonstwie interne Fragen behandeln, wie die parallelen
Organe der Wissenschaftler und Künstler, die aber
Fachblätter sind in einem tieferen und schädlichen
Sinne: ihrer geistigen Struktur nach. Sie behandeln
stofflich Dinge, die andere Zeitschriften auch behandeln,
und die eigentlich alle Gebildeten angehen; aber ihre
Voraussetzungen und ihre Sprache sind andere als die

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