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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Steiger, Hans: Die festlichen Großstädte
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Walser, Robert: Der Knabe
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L. G.: Im Goethehaus zu Frankfurt a.M.
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0422

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ie festlichen Großstädte.
Von Hans Steiger.

Wenn in den dächerfunkelnden, großen Städten
die Gottestrachttage sonnenweiß dastehn:
mit den musizierenden, wehenden Plätzen,
prächtigen Grasen und Domherrn und Metzen . . .
da kann man die armen Augen ganz sich aussehn!
Die vielen blanken Türme empfangen
den Tag. Und rütteln die Glocken,
die auf den schwarzen Balken wie Witwen hocken.
Breitgewandet, mit vergrabenen Wangen.
Und die vielen Türme, die's wunderbare
Sonnenlicht über die Schultern haben
wie Frauenhaare,
schütteln die ernsten Glockenkörper.
Die suchen und wanken
wie Mädchen, die im Dunkeln dem Liebsten danken.
Sie werden setzt hell und laut und klingend
und durchdringend
in ihren erzitternden Gestühlen.
Sie springen auf und durchwühlen
die Luft mit Dröhnen und fliegenden Erzen,
bis die Priester kommen in reichen Gewändern,
bis an den blumenrankigen Marmorgeländern
das Volk sich staut
und alle seine Herzen
zu lauter Stufen werden an den Altären.
Und Armut und Elend will sich verklären:
nach einem seltenen, heilen Rocke
suchen da die Ärmsten in ihren Schränken.
Der Vater humpelt lächelnd auf einem ganz neuen.

gefundenen Spazierstocke
und möchte seine Kinder heut gerne beschenken.
Seht, jetzt schicken die kostbaren Kirchensäle
in festliche Straßen Prozessionen.
Auf den Wällen donnern die Kanonen
fromme Freude in die Menschenseele.
Und neben den kommenden, silberweißen,
duftigen Baldachinen klingeln die kleinen
Ministranten
und haben die heißen,
rotgebrannten
Weihrauchschalen in ihren blassen, feinen
Knabenhändchen.
Und dann die blitzenden Trompeten.
Militärmusikklänge . . .
Der Mönche lateinische Gesänge
und dann, mit etwas Abstand, die Armen,
die ernst und wichtig ihren Rosenkranz beten.
Gen Mittag ist der Zug vorüber.
Die Wagen sind ein tolles Her und Hinüber.
Dazwischen unendliche Menschenmengen.
Auf schattigen Promenaden lustwandeln
die Damen mit miedergeraden, zierlichen Leibern.
Ihre Brüstlein hängen lose in nachgiebiger,
dünner Seiden.
Sie legen die Röcke jetzt eng um die Becken;
jeder Schritt muß unreife Knaben wecken,
an deren aufgeschlagenen Blicken sie sich weiden.. .
O, in den funkelnden, großen Städten,
wenn die Gottestrachttage sonnenweiß dastehn,
da kann man die armen Augen ganz sich aussehn!

Knabe.
Ein Tierbändiger wurde eines Abends vor den Augen der
Leute, die gekommen waren, um sich die Vorstellung anzusehen,
von seinem Löwen, einem Prachtexemplar, angegriffen und so
furchtbar zugerichtet, daß er, nachdem man ihn aus den Tatzen
des Ungetüms befreit hatte, nur noch einen letzten überaus trau-
rigen Blick auf seine Frau und auf seine Kinder werfen konnte,
worauf er, zerfleischt und zerrissen, wie er war, den Geist auf-
geben und sterben mußte. Die arme, derart ihres Gatten und
Ernährers beraubte Frau sah sich hohläugiger, erbarmungsloser
Verzweiflung gegenübergestcllt; denn woher sollte nun das Geld
kommen, und wer, wer um Gottes willen sollte nun das gefähr-
liche Geschäft der Tierbändigung mit einigem Glück weitertreiben?
Der Verstorbene schien unersetzlich, und das Elend und der Jammer
schienen allgewaltig; da trat, blitzenden Auges und getrieben von
einer höchst staunenswürdigen Willenskraft, von Energie sprühend,
gleich, als sei er eine hochauflodernde Flamme und kein zarter
Knabe, der Sohn des eben Gestorbenen vor die unglückliche Mutter
und sagte ihr mit einer Stimme, die die Festigkeit und die eiserne
Entschlossenheit durchzitterten, daß er und kein anderer jetzt den
Beruf seines Vaters übernehmen und weiterführen werde. Ah,
ein junger Held glühte, und nichts nutzten bei dem stolzen Feuer-
kopf die Vorstellungen, die die tödlich erschrockene Mutter dem
Kinde machte. Er wartete den nächstfolgenden Schauspielabend
mit brennender Begierde ab, um seiner Mutter den Mut zu zeigen,
der ihn beseelte, und als die Stunde gekommen war, trat er mit
gebieterischer Miene, einem jugendlichen Fürsten ähnlich, die
Peitsche und die Pistole nachlässig in der Hand, so, als sei er meilen-
weit davon entfernt, zu denken, sich irgendeiner andern Waffe
als nur seiner Todesverachtung zu bedienen, in den Käfig und
errang schon mit dem bloßen Eintritt in denselben stürmischen Bei-

fall. Atemlos schaute das Publikum von seinen Bänken dem herz-
beklemmenden Schauspiel zu, und als der mächtige Löwe nun
dem zarten, lieben, tapferen, schönen Knaben gehorchte und alles
pünktlich ausführte, was von ihm verlangt wurde, sich dem Kind
zu Füßen legte, er, der am vorherigen Abend den Vater zerrissen
hatte, erhob sich ein Tücherwinken, ein Geschenkezuwerfen, ein
Klatschen und eine so gewaltige Begeisterung, wie die Menagerie
sie nie zuvor erlebte. Der Knabe verdiente den Jubel, er lächelte.
Doch wo nehmen wir die Worte her, die nötig wären, den mütter-
lichen Stolz und Jubel zu beschreiben, der nun mit ungestümen
wilden heißen Küssen auf die Wangen, auf das Haar und auf die
kleinen Hände des Knaben regnete, als er wohlbehalten zu der
Mutter zurückkehrte. Mit namenloser Liebe schaute sie dem Helden,
den sie geboren hatte, in die Augen, und immer wieder, immer
wieder, ganz überwältigt, mußte sie ihn küssen, ihn, der daftand,
so bescheiden, als verstehe er nicht, was er Großes und Schönes
getan hatte. Robert Walser.
Goethehaus zu Frankfurt a. M.
Es gibt Menschen, die eine so übertriebene, zärtlich gepflegte
Vorstellung von den geliebten Dingen haben, daß sie ihnen aus dem
Wege gehen; die Furcht vor der grausamen Enttäuschung steht
immer wie ein Hindernis davor. Solche Leute können nach Paris
reisen und fahren keineswegs nach Versailles hinaus, aus Angst,
Trianon und die Gärten des Parks möchten ihnen statt der feinen
Grazie der Rokokozeiten die zurechtgemachte historische Treue
im Zeitgeschmack zeigen.
So kann es einem mit Weimar gehen oder mit der Wartburg
oder auch — mit Frankfurt. Jahrelang kam ich ab und zu in diese
Stadt, die ihre historischen Schätze ja freilich trägt wie eine Dame
den ererbten Familienschmuck: Sie kommt einem nicht am Bahn-

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