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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 23.1913

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Soellen, Ludwig: Die alte und die neue Naturphilosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.26493#0485

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ie alte und die neue
Naturphilosophie.
Was noch vor zwanzig Jahren in das Gebiet der
Unmöglichkeit gehörte, das ist heute Ereignis gewor-
den: es gibt wieder naturphilosophische Bestrebungen,
ja, es gibt sogar schon eine ausgebildete Naturphilo-
sophie, die mit dem Anspruch einer Weltanschauung
auftritt. Die Naturphilosophie teilt also das Schick-
sal der Philosophie überhaupt, sachte wieder aus der
Versenkung hervorgeholt worden zu sein, in welche
die Verachtung einer auf die bloße „Erfahrung"
gerichteten Zeit sie hinabgestoßen hatte. Gerade die-
jenigen, welche bisher alle Philosophie abwiesen, und,
wenn sie schon philosophische Fragen stellten, sich mit
unklaren, grob-materialistischen Antworten begnügten,
die Naturwissenschaftler, lieben heute vor allem natur-
philosophische Probleme. Rein äußerlich betrachtet,
besitzt dieser Hergang den berühmten welthistorischen
Humor. Ursprünglich nämlich, als die „ungeheuren Er-
folge der Naturwissenschaften" — so sagt heute jeder,
der außer der Kleider- auch die Schlagwörtermode mit-
macht — die Scheuklappen des geistigen Horizonts
bildeten, war es allgemeine Sitte bei den Naturwissen-
schaftlern und den Nachlaßpflegern der verstorbenen
Philosophie, über die Naturphilosophie Schellings
weidlich zu schimpfen, als über spekulative Willkür und
unfruchtbare Verstiegenheit; die Verachtung, welche
diesem immerhin recht genialen Philosophen zuteil
wurde, war geradezu erbittert. Freilich hatten ihn die
Verächter samt und sonders kaum gelesen; das konnten
sie gar nicht, weil damals den Menschen überhaupt so-
zusagen das Organ verloren gegangen war, die schwie-
rigen und liefen Bücher des deutschen Idealismus zu
lesen. Heute dagegen stehen die philosophisch gesinnten
Naturwissenschaftler da, wo der verspottete Idealismus
seinen Ausgangspunkt nahm: sie stehen in bezug auf
ihre Fragestellung in einer Linie mit Kant, indem sie
die methodischen Voraussetzungen untersuchen, mit
welchen ihre Wissenschaft an die Arbeit geht; und wer
die neuen naturphilosophischen Erörterungen übersieht,
wird sich schwerlich der Überzeugung enthalten können,
daß das Ende eine systematisierende Gesamtauffassung
sein wird, wie sie grundsätzlich, d. h. dem Ziele nach, auch
der verlästerte Schelling wollte.
Eine Abart der gegenwärtigen Naturphilosophie
geht ihren eigenen, anderen Weg; es ist diejenige, welche
mit dem Anspruch einer Weltanschauung auftritt, das
ist die Energetik Ostwalds. Sie hat als „Monismus"
rasche Verbreitung unter den Laien gefunden. Über
Wert oder Unwert entscheidet da nicht das wissenschaft-
lich gegründete Urteil, sondern der „gesunde Menschen-
verstand", dem eine Lehre plausibel dargestellt wird,
die seinem naturwissenschaftlich durchsetzten Erfahrungs-
bestand angemessen ist, die selber diesem Erfahrungs-
bestände entspringt und ihn scheinbar nirgends über-
schreitet. Sie macht sich anheischig, der Menschheit einen
vollen Ersatz für die unwirksam gewordenen Prinzipien
der Geisteskultur zu gewähren, als da sind die religiösen
und ethischen Ideen; ihre aus der Naturerkenntnis


stammenden Grundsätze, die Gesetze von der Energie,
der Entwicklung und Vererbung, werden zu Zauber-
formeln, welche die gesamte menschliche Kultur bis in
die letzten Winkel regulieren und deuten und alle Be-
sonderheit der philosophischen Methoden und Ziele über-
flüssig machen. Eine überaus respektable Leistung, vor-
ausgesetzt, daß sich das alles nicht als Schaumschlägerei
erweisen sollte. Schelling wurde es für unverzeihliche
Torheit angerechnet, daß er den Geist als das wahrhaft
Substanzielle der Natur ansah und mit bloß spekulativen
Bestimmungen des Denkens die Natur zu erklären, zu
konstruieren unternahm. Liegt denn nun in den „un-
geheuren Erfolgen der Naturwissenschaft" das Recht,
von der Naturerkenntnis aus den Geist zu umfassen und
zu konstruieren? Vielleicht ist das erst recht eine unver-
zeihliche Torheit. Vielleicht liegt in der Aufgabe und
Methode der Philosophie die zureichende Begründung
des deutschen Idealismus und des Idealismus überhaupt,
während dieser Materialismus von Grund auf un-
philosophisch ist. Das Schicksal des verflossenen „Kraft-
und Stoffmaterialismus", durch dessen Propagierung
sich Leute wie Büchner einen kaum beneidenswerten
Ruf verschafft haben, sollte auch die Monisten warnen:
die Geschlossenheit seines Weltbildes ergab sich durch-
aus nur aus der Vermengung naturwissenschaftlicher
und philosophischer Arbeitsmethoden und war lediglich
der Erfolg eines banalen Dilettantismus und einer un-
fähigen Halbbildung. Jedenfalls ist angesichts der
energetischen Naturphilosophie Ostwalds eine kritische
Prüfung geboten, der sich auch die Gläubigkeit der
Monisten nicht verschließen dürfte. Einzelheiten zu unter-
suchen, das System an der einen oder anderen Stelle
anzugreifen, mag dabei recht wichtig sein; aber das trifft
die Sache nicht an der Wurzel. Auch für den Laien
möchte vielmehr das Entscheidende eine Klärung des
Wesens der Naturphilosophie überhaupt sein: werweiß,
was die Naturphilosophie will und wollen muß, der
hat das Mittel zur Prüfung in der Hand, ob die Lehre
Ostwalds diesen Titel verdient. Die Möglichkeit einer
solchen Prüfung wird sich uns somit als ein Nebenerfolg
ergeben, wenn wir eine Wesensbestimmung der Natur-
philosophie vornehmen und dabei die Beziehung der
alten zur neuen feststellen.
q- *
*
Unsere erste Frage lautet also: Was ist Naturphilo-
sophie? Oder genauer: Wie entsteht das naturphilo-
sophische Problem? Die Antwort ergibt sich am leich-
testen und für unseren Zweck am besten durch An-
knüpfung an die naturwissenschaftliche Erkenntnis-
methode. Bei der Beobachtung und Untersuchung des
Naturgeschehens verhält sich der Naturwissenschaftler
keineswegs rein und bloß aufnehmend; er bringt viel-
mehr selber an die Tatsachengegebenheit gewisse Grund-
sätze des Erkennens heran, er arbeitet mit bestimmten
Voraussetzungen, nach denen er diese Gegebenheit
ordnet, und durch die allererst die Gegebenheit in Er-
kenntnis umgewandelt wird. Das Fallen eines Körpers
zur Erde z. B. beschreibt er nicht einfach als die Be-
wegung, wie er sie sieht; er faßt dieses Geschehen viel-
mehr unter das Verhältnis von Ursache und Wirkung,


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