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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 2
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Röttger, Karl: Der letzte Weg und die Brücke: Novelle
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Halm, August Otto: Vom Episodischen in Wagners Musikdrama
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0084

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Der leht« Weg und die Brücke.

Maß hätte das messen mögen? hier, wo nicht Maß und
Aeit mehr war), jenseit der Pfeiler geschah das Letzte,
ein Seufzer, ein Schrei hob sich und kehrte, wie vorm
Drüben scheuend zurück, und das Weib an der Brücke
fing ihn in ihren Händen auf ... legte ihn zu dem
übrigen. ... Aber dort, wo die Gestalt erlosch, schloß
sich lautlos das Schweigen hinter ihr. — So, als wenn
du einen Stein leise mit der Hand auf eine Wassersläche
legst — und lässest los, da sinkt er, stumm und ohne
Geräusch und gleitet in die Tiefe. —

So war es. —

So kamen und gingen die Vielen, und alle einsam. —

Es kamen alte gebückte Gestalten, es kamen Männer
schlank und groß; es kamen Frauen und Mädchen, es
kamen die kleinen Kinder ... Und kamen zwei neben-
einander, ein Mann und eine Frau, und kamen zu gleicher
Aeit fast, als hätten sie sich noch an den Händen — so
war doch schon die Zwischenheit zwischen ihnen und ihre
Hände hatten sich schon leise gelöst.

Jeder war allein und jeder für sich. —

Reiter kamen auf großen Gäulen, gaben ihr Aller-
letztes hin an Sein und Schwere des Seins und glitten
gespenstisch — hinüber ...

Es kam eine Frau mit welkem Gesicht und legte letzte
Mühsal in die Hände des Greisen am Graben und legte
einen letzten Traum in die Schale des Weibes ...

Männer kamen und ließen letzte Tropfen Schweiß
und Blut in die Schale tropfen.

Ein Jüngling kam, als trüge er schwer, schwer, und
ein kleines Blütenreis sank mit seinem Herzen in die Hände
des Weibes ...

Und ein Kind kam, traurig und doch in kindlicher Lieb-
lichkeit, aus einer Wunde blutend. Tropfen mochten
wohl im Sand seinen Weg bezeichnen, dort, wo noch
mehr Licht ist zum Schauen — hinter ihm —, sein Fuß
stockte ein ganz klein wenig bei der Frau am^Pfeiler,
und das letzte Tröpflein fiel hin, und der Schatten ...
glitt hinüber ...

So gingen sie alle, kamen her, stockten ein klein
wenig, ließen das letzte von sich sinken und — Schatten
glitten hinüber ...

- ! Und immer der leise Wechsel von Tag und Nacht,
das letzte verdämmernde Drehen und der letzte ver-
klingende Gang der Uhr des Seins hier am Rand, auf
dem letzten Weg und an der Brücke_

Und wie jede Uhr einmal aussetzt, in den Momenten,
die niemand weiß vorher — auf einmal sind sie da, so
war in dem immer gleichen Gehen und Schwinden, in dem
immer gleichen Wechsel von blassem Tag und blasser
Nacht ein kleines Stillstehen, eine Atemlosigkeit und —
es kam nichts...

Das war der Augenblick, wo die ausgestreckten Hände
sich einzogen, wo die Bettler am Rand des Seins sich
erhoben und hineingingen ... Sie gingen hinein mit
allem, das sie in Händen und im Schoß gesammelt
hatten und dieser Augenblick war ihrATag, war ihre
Befreiung, ihre Stunde der Erlösung. —
kS Dann ging ein Licht auf im Hause, das ging matt
und trüb auf die Straße und auf dem Tisch standen die
Reste vieler Leben, und das Fest begann ...

Es währte — wie lange? — das kann niemand sagen.
Denn es stand die Atemlosigkeit und das Warten des
Nichts darum; das Fest begann ... Vielleicht, daß das
Licht in klein wenig höher aufglomm, vielleicht daß ein
Lachen und ein Singen wagte, hinzustrahlen und dann
erlosch. Vielleicht, daß es hinter Mitternacht begann
und bis an die erste Frühe währte. —

Vielleicht. —

Und der Morgen begann — so leise. —

Fern, fern im Leben ging wohl auf, das man Sonne
nennt ... die Uhr des Seins und ihr letztes Iittern
des Schlags und Klangs, ihr letztes Glimmen des goldenen
Klangs und Scheins, ihres goldenen Gewichts ver-
zitterte über dem Nachtfest.

Das beendeten die vier, und Mann und Weib ver-
sanken in ihre Farblosigkeit, Stille und Schwermut,
und schlichen hinaus, am Weg zu sitzen, wo wieder die
große Wanderung aller Einzelnen beginnen mußte. —

Und es begann wieder die große Wanderung der
Einzelnen her aus der Weite, mit ihrer letzten Schwere,
die ihnen entglitt, ehe sie hinübergingen, glitten —
schwanden ...

Und sie kamen und kamen und schwanden hin.
Jmmerfort.

Hinüber ...

Hinüber ...

om Episodischen in Wagners
Musikdrama.

Der Meister des Dramas muß auch die Meisterschaft
des dramatischen Tempos, den Sinn für den notwen-
digen Rhythmus des Motorischen besitzen, von dem
sein Erfinden der einzelnen „Motive" von Handlung
oder Hemmung geleitet wird. Dieses stoffliche Erfinden
muß so viel Stärke und Disziplin haben, daß es die eigent-
lich leitende dramatische Absicht zu verhüllen vermag,
ohne sie doch zu vereiteln; es darf den gebietenden
geistigen Willen nicht beengen noch in seiner Richtung
stören, indem es ihn verkörpert.

Da mir diese Aufgabe da schwerer und ernster er-
scheint, wo es zu retardieren, als da, wo es zu beschleu-
nigen gilt, und da ich deshalb ihre glückliche Lösung
für besonders aufschlußreich halte, so hebe ich einige
solcher Fälle hervor und lade zur Betrachtung des künst-
lerischen Prinzips der Episode ein, die ich definiere als
das zum fcheinbar oder beinahe selbständigen Bild
gewordene Retardierende.

1. Der Loge des Rheingold-Dramas, da er von seiner
Erdenfahrt erzählt, greift zwar stark, ja entscheidend
in die Handlung ein und er handelt also sogar in erster
Linie, obgleich er nichts von Tat begeht: Die Wirkung
seiner Worte gibt die große Krisis. ^Das Drama aber
als sichtbarer Verlauf stockt hier, und das Drama als
Kunstwerk gebietet eben hier den Stillstand, dem das
von dem Erzählenden entrollte Bild dient. Loge näm-
lich berichtet nicht etwa in gedrangem Ieitmaß Ereignis
auf Ereignis, sondern er dichtet, er verweilt; er genießt
selbst das Bild, das er malt. Diese Absicht des dramati-

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