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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 24.1914

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Heft 12
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Isemann, Bernd: Schirmeck einst und jetzt: Jugend-Erinnerung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26492#0438

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Schirrneck einst und jetzt.

Bündel ab, nahm die blanke Sichel heraus und begrüßte
uns. An den Sonntagen trug sie ein schwarzes Seiden-
kleid mit Glasperlen, und dann kam sie zu meiner Tante.

Wenn ich an Schirmeck dachte, so war das auch noch
in spateren Knabenjahren für mich ein Unterschied,
wie wenn man einen Europaer nach Jndien versetzte,
so ganz anders war es dort als in Straßburg. Einmal
war ein deutscher Müllerbursche nach Labroques ver-
schlagen worden, der konnte weder Französisch noch
Uatois, es war zum Lachen. Der Nachbar Demange
spielte Iiehharmonika, und der Müllerbursch sagte, er
habe keinen Takt. Da man sich nicht verstand, wurde ich
als Dolmetscher herbeigeholt, aber der Nachbar Demange
verstand auch mich nicht, er hatte namlich wirklich keinen
Takt, und zu meiner Verblüffung mußte ich erkennen,
daß ich selbst nicht mehr rechtDeutsch verstand. Jch hatte
es wirklich verlernt, so gründlich, daß ich später drei Tage
brauchte, um mich wieder regelrecht mit meinen Ge-
schwistern zu verstandigen. i Und dennoch blieb ich immer
der xetit allemLllä, der eine andere Natur hatte und gegen
seine beste Tante so spröde war.

Dann spater, viel später, als Schirmeck das Wort
für Ferien geworden war, kam ein Jahr, da hörte ich
beim Aussteigen aus dem Iug zwei Leute Deutsch reden,
richtiges Deutsch. Jch entsinne mich noch gut der Ent-
täuschung, die mich beschlich. Der ganze köstliche Unter-
schlupf des Märchenhaften war dahin, und Jahr für Jahr
wurde das Deutsche haufiger auf der Straße und in den
Läden. Es entstanden neue Häuser, neue Fabriken,
größere Läden; Steinbrüche mit vielen Hundert Arbcitern
taten sich auf. Wie oft hörte man nun unter den Leuten,
die zur Mittagszeit auf dem Absatz unseres Garten-
mäuerchens mit ihren Blechgeschirren klapperten, deutsche
Laute, deutsch geführten Streit. Jedes Kind mußte
merken, daß hier eine neue Ieit sich rüstete. Ja, sogar
meine Tante mußte es fühlen, als ihr auf irgendeinen
Vorhalt hin ein gut deutsches Schimpfwort entgegenflog.
Lloll vieu, was machte die Demoralisation Fortschritte!
Und je größer ich wurde, um so mehr Fortschritte machte
diese Bewegung, die in den Augen meiner Tante eine
Demoralisation war. Sie waren eben nicht mehr die
Einzigen, nicht mehr die einzigen Wohlhabenden, nicht
mehr die Einzigen, auf die man hörte, und es gab eben
Leute, die nicht wußten, daß meine Tante den ganzen
Sebastiansaltar gestiftet hatte, und die zwei Glasfenster
daneben ebenfalls. So weit war es gekommen. Aber
bald wurde es Schirmeck zu eng im Tal, nach allen
Seiten griff es aus, und die Wiesen machten Bauplätzen
Raum. Arbeiterviertel schlossen sich an, große Wasser-
bauten mit Kanalen und Fabriken, der Viehbestand
ging zurück, es gab keinen Gemeindehirten mehr, die
Leute verdienten ja so viel in den Fabriken, es war ein
ungeheurer Aufstieg. Und dies nicht bloß in Schirmeck,
nein überall das Tal hinauf, das Tal herab, wo nur immer
ein Bach, ein Stauwasser war. Der Vogesenklub legte
wundervolle Pfade durch die herrlichen Berge, Luft-
kurorte wuchsen aus dem Boden der kleinen Dörfer,
herrliche breite Straßen wurden über die Berge geleitet,
Hotels und Pensionen standen gerüstet, den stetig
zunehmenden Touristenstrom zu bergen. Deutsch hatte
alles überflügelt, die Ansprüche der Bevölkerung be-
kamen von selbst andere Wegweiser. Die jungen Leute,

die in Spandau oder Königsberg oder sonstwo gedient
hatten, kamen aufrecht, strotzend von Kraft und voll
nationaler Überzeugungen zurück. Sie sprachen ein
weiches Deutsch, aber die Kameradschaft hatte ganz neue
Vorstellungen von deutscher Art vermittelt, auf die sie
stolz waren. Und wer von den handeltreibenden Ein-
heimischen, die ihre Ieit verstanden, wer hat an diesem
Aufschwung und Gewinn nicht teilgehabt?

Eines Tages begann eine kleine Waldbahn, die von
der Forstverwaltung gebaut worden war, ihre Fahrten.
Sie sah aus wie ein Spielzeug, aber bald lagen diese
schmalen Gleise bis in der Nähe des Donon, wanden
fich bis zum Katzenstein empor undmündeten abseits von
Salm in das Moor der sogenannten La Mar. Jn den
tiefsten Waldklüften konnte man das Heulen der Bremsen
hören, wenn diese niedrigen Wäglein mit meterdicken
Tannen beladen abwärts glitten. O, die schönen heiligen
Fichtenwälder, die ich in meiner Kindheit noch gesehen
habe, hundertfünfzig-, zweihundertjährige Tannen! Iehn
Jahre dieses Bähnleins genügten, sie alle zu Tal zu
schleifen. Papierfabriken und Sägemühlen arbeiteten
diesen Segen in klingenden Lohn um, kein Moor, kein
Winkel blieb unausgenutzt. Wo Heide war, entstand
Wald, das heißt sauberer Forst. Große Windbrüche
als unausbleibliche Folge zu großer Waldnutzung
stürzten ganze Bergflanken kahl, aber kein Span ging
verloren, und bald stand auch da wieder in Reih und Glied
eine neue Generation.

Wie oft haben wir geklagt, wenn auf unseren weiten
Spaziergängen wieder eine jener heiligen Hallen nieder-
gelegt war, aber wir wußten, es ist das neue Deutschland,
das nach Arbeit für seine Hände schreit. Jst es nicht
wichtiger, daß Menschen gedeihen, als daß eineSchönheit
verschwindet? Wer versteht, wie eins mit dem andern
zusammenhängt, der muß auch dies gelten lassen. Später
wird eine Ieit neue Schönheit und einen Ausgleich der
wirtschaftlichen Bedürfnisse bringen.

Demgegenüber ist es eigentümlich, welches Gefühl
mich beschleicht, wenn ich die deutsche Grenze über-
schreite und meine Streifzüge auf französisches Gebiet
hinüberverlege. Das erste ist, daß ich ständig meine
Karte in der Hand halte. Sie stimmt an vielen Stellen
nicht, und meine Korrekturen darin erinnern mich an
ungeheure Tagemärsche und surchtbare Jrrgänge in
unübersehbarer Wildnis. Kein Pfad, keine Wegmar-
kierung, kaum einmal ein altes Blechschild mit unleser-
licher Bezeichnung, nur schnurgerade Sektionsgräben,
die kreuz und quer über die Berge ziehn und zugleich
dem Wild zum Wechseln dienen. Mannshohe Farren
und Brombeergestrüpp, in denen die sehr kleine, aber
wehrhafte Waldwespe mit Vorliebe ihre Nester anlegt,
überziehen diese stets feuchten Schneisen. Nach Stunden
vielleicht trifft der Fuß auf eine noch kenntliche Wald-
straße, die vor hundert Jahren einmal angelegt wurde,
als dieser Teil des Waldes umgelegt werden sollte.
Ein dumpfes Urwaldbrauen herrscht in diesen haushohen
Gewölben, in denen Millionen am Boden faulen, Gebirgs-
bäche schäumend zwischen ganzen Barrikaden von Ur-
waldleichen und unter ihnen durch abstürzen und der Fuß
im Moor versinkt. Es ist wahr: steil und gewaltsam
stürzen hier die Berge ins Tal, aber sie hängen auch
wieder in gewaltigen, unübersichtlichen Formen zu-
 
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