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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 10
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Schuy, Clemens: Neuromantik
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Doderer, Otto: Kanoniere
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0371

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Ncuromantik.

die vollkommene Überlegenheit und Herrscheft des
Geistes über den Stoff durchgeführt bis zur Verneinung
desselben. Nicht nur, daß vom Gegenstandlichen in
diesen Bildern keine Spur mehr bleibt, auch alle Reize
des Sinnlichen, denen gegenüber der Geist sich passiv
aufnehmend, leidend verhalt, sind unterdrückt. Auf ein
farbloses Grau-Braun ist alle Farbe zurückgedrangt.
Nichts ist gegeben als die reine Form, die reine Erkennt-
nis, die unmittelbare Sprache des Geistes. Die roman-
tische Ironie ist hier bis zum Ertrem getrieben. Doch sie
ist nur eine Seite der Möglichkeit der Befreiung vom
Stoff. Die andere findet ihren Ausdruck in der roman-
tischen Allegorie. Der Stoff wird geistig umgedeutet
und so zu Geist. „Für den wahren Dichter", sagt Friedrich
Schlegel, „ist alles nur Hindeutung auf das Höhere,
Unendliche, Hieroglyphe", und an anderer Stelle:
„Alle Schönheit ist Allegorie." Dies ist das Erlebnis
Kandinskys und seiner Freunde vom „blauen Reiter".
Gibt Kandinsky als Künstler Gegenstände, oder reine
Formen und Farben, nie ist ihm dieses Sinnliche Aweck
und Ende. Das Kunstwerk liegt nicht in einem Farben-
schmaus, einem Farbenrhythmus, sondern in den
Schwingungen und Erregungen unseres geistigen Ge-
fühls, die durch Farben und Formen bewirkt werden.
Alles ist ihm Symbol. Die in unserer Seele erzeugte
harmonische Einheit ist das Kunstwerk. Der „innere
Klang", das „geistige Parfüm", das jeder Farbe und
Form eignet, sind seine Materialien. Außerliche Dis-
harmonie und Haßlichkeit brauchen daher durchaus nicht
vermieden zu werden und können notwendig zum Auf-
bau des geistigen Kunstwerks sein.

Kandinsky ist eine durch und durch romantische
Natur, in viel tieferem Sinne als etwa Hofmannsthal.
Nur der Unterschied besteht zwischen ihm und der alteren
Romantik, daß diese die Übersinnlichkeit des Kunstwerks
nicht so gefühlsmäßig erlebte, sondern mehr als geistige
Anschauung eines Teils des Unendlichen.

Daraus aber, daß der romantische Künstler kein
Sinnliches außer sich, kein Objekt gestalten will, folgt,
daß sein Iiel auch nicht das fertige, abgeschlossene, i»
sich vollendete Kunstwerk sein kann. Der Akzent hat
sich bei ihm vom Geschaffenen auf das Schaffen selbst,
auf das Erlebnis verlegt. Das Bild ist nichts als das
belanglose Produkt dieses Erlebnisses, nur das Mittel,
an dem es sich verwirklicht, eine Nebenerscheinung von
keiner selbständigen Bedeutung. Der Maßstab für die
Dauer und Jntensität des Schaffens kann also nicht dem
Austande des Bildes entnommen werden. Daher kommt
die nicht nur scheinbare, sondern tatsächliche Unsertigkeit
moderner Bilder und Nachlässigkeit und Gleichgültig-
keit, mit der alle technischen Dinge behandelt sind. Denn
nur im Schaffensakte, nicht ini Bilde selbst wird Voll-
endung erstrebt. Mit dieser Akzentverlegung nach
innen muß sich auch unsere Betrachtungsweise dem Bilde
gegenüber ändern. Von einem „Genießen" im alten
Sinne des Wortes kann nicht die Rede sein. Diese Bilder
wollen gar nicht genossen werden. Daß man sie in Aus-
stellungen hängt, bewirkt, daß man sie dennoch auf ihre
künstlerischen Genußmöglichkeiten hin ansieht und des-
halb nichts mit ihnen anfangen kann. Sie bleiben ein
Buch mit sieben Siegeln und werden es für die Mehr-

zahl der gegenwärtigen Menschen immer bleiben. Aber
man soll einsehen, daß dies so sein muß. Denn ein
modernes Bild ist nur als Dokument zu betrachten.
Es ist ein Aufruf nach verwandten Seelen, eine Werbe-
schrift für eine neue Art des Erlebens, eine Aufforderung,
diese Erlebnisse auch in sich lebendig werden zu lassen.
Wer dies aber nicht kann, der wird durch noch so langes
Betrachten nicht hinter das Geheimnis kommen. Denn
anders wie beim klassischen Kunstwerk, das ohne die
geringste Beziehung auf die Person des Schöpfers als
ein Ganzes, Geschlossenes, Notwendiges, als eine
neue Natur begriffen und genossen werden muß, kann
hier nur das völligste Aufgehen im Erlebnis des Künst-
lers die Einsicht in die Notwendigkeit des Kunstwerks
verschaffen, das, für sich betrachtet, als kleiner, seit-
abfallender Widerschein eines unbekannten großen
Lichtes unverständlich und sinnlos erscheinen muß.

Wir sind zwar des romantischen Denkens so sehr ent-
wöhnt, daß es uns fast unmöglich ist,hier Gleichberechti-
gung zuzugestehen. Dennoch scheint die neue Bewegung
sich durchringen zu wollen, geistig nicht so tiefgrabend,
auf letzten Erkenntnissen von Welt und Jch beruhend,
wie die vor 115 Jahren. Aber es scheint eine stärkere,
vorwärtstreibende Kraft dahinter zu stecken. Die Ro-
mantik um 1800 hat sich nicht lange reingehalten. Sie
ist bald zur klassischen Form mit romantischem Stoffe
zurückgekehrt, über die nur ein bald stärkerer, bald
schwächerer Schimmer romantischen Geistes ausgebreitet
war. Die heutige Bewegung hat deshalb eine größere
Aukunft, weil sie einmal schon gleich beim Entstehen
weitere Kreise umfaßt und in allen Ländern sich die
Regungen des Neuen zeigen. Dann aber auch deshalb,
weil sie eine rein künstlerische Bewegung ist und nicht
als Betrachtungsweise auf das Leben hinüberzuspringen
und so einen romantischen Stoff zu schaffen droht, der
dann den Geist, die Form überwinden möchte. Die Be-
wegung steht heute noch in den Anfängen. Viel Mache
und Pose mag noch mitlaufen. Doch ist die Reihe der
neuen Möglichkeiten ganz übersehbar, besonders wenn
sie aus ihrer Domäne, der bildenden Kunst, auf Musik
und Dichtung übergreift, was erst in geringem Um-
fange geschehen ist. Die gesamte Kunst hat in ihrer
ganzen abendländischen Entwicklung noch nicht an
einem solchen bedeutsamen Wendepunkt gestanden wie
heute. Es ist zwar nicht zu erwarten (und ganz und gar
nicht zu wünschen), daß die neue Anschauung alle künst-
lerischen Leistungen bestimmen wird. Daneben wird die
Klassik bestehen bleiben. Aber wir werden vielleicht zum
ersten Male, denn auch dasMittelalter kam im Grundevon
der Form der Antike nicht los, innerhalb des okzidentalen
Kulturkreises, abgesehen von jener ephemeren Erscheinung
um 1800,echteRomantikerleben. Clemens Schuy.

anoniere.

Von Otto Doderer.

Jch kann den Spuk nicht aus dem Hirn verscheuchen,
den ich erhaschte im Vorüberkeuchen,
zurückgeschickt als Ordonnanz,
um neue Scharen in den Totentanz
heranzubringen.
 
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