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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 25.1915

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Heft 11
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Schäfer, Wilhelm: Aus der Jugend Heinrich Pestalozzis
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https://doi.org/10.11588/diglit.26491#0398

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ris der Iugend Heinrich Peftalozzis'*

Von Wilhelm Schäfer.

1.

Als die Menschenseele in Heinrich Pestalozzi erwacht,
liegt sie in einer Stube am Hirschengraben, wo sich jen-
seits der alten Stadtmauer bis zu den neuen Bastionen
am Aürichberg hinauf dieLandhäuser derReichen sonnen.
Sie selber spürt nicht viel von dieser Sonne, sie haust
mit Kleinbürgersleuten im Gedränge hoher Steinge-
bäude, die nur finstere Gäßchen zwischen sich lassen und
mit dunklen Treppen in beengte Wohnungen führen.
Außer der Mutter und einer Magd, die Babeli gerufen
wird, sind noch drei Geschwister in der Stube, ein Knabe
Johann Baptista und zwei Mädchen, von denen das
kleinste in der Wiege liegt. Das wird eines Tages von
schwarzen Männern fortgetragen, über die dunkle Treppe
hinunter in die Stadt, die draußen mit beschneiten
Dächern liegt. Jm Sommer aber ist es wieder da, schläft
in der Wiege und heißt Bärbel, wie es vorher auch ge-
heißen hat. Doch weint die Mutter immer noch, und
der Vater, der sonst mit großen Schritten durch die
Stube gegangen ist, liegt in der Kammer nebenan, nicht
anders als das Bärbel in der Wiege; seine haarigen
Hände ruhen auf dem Leintuch, und die Augen forschen
an der Aimmerdecke.

Eines Tages muß das Babeli hinein zu ihm — allein
und lange, während die Dachtraufe vor dem Fenster
einen langen Strahl zerstäuben läßt; als es wieder
herauskommt, fällt es der Mutter um den Hals und
weint. Die hat, das Bärbel säugend, auf der Ofenbank
gesessen; nun tut sie das Kind schnell von der Brust und
läuft in die Kammer. Nachher muß Heinrich Pestalozzi
mit den Geschwistern auch hinein; der Vater bemerkt sie
schon nicht mehr, seine Augen aber forschen noch nnmer
an der Aimmerdecke, nur die eine Hand ist von der Bett-
decke abgerutscht, und die Mutter hängt daran, als ob sie
ihn festhalten wolle.

Am andern Tag ist er in einen Sarg getan, die Hände
sind auf der Brust gefaltet, und die Lider haben wie
zwei Deckel aus Wachs die forschenden Augen zugemacht.
Heinrich Pestalozzi und sein Bruder bekommen die Sonn-
tagskleider an und müssen — als fremde Männer in
schwarzen Röcken und Hüten kommen, den Vater zu
holen — mit hinunter über die dunkle Treppe und hinter
ihnen her durch die Gassen nach dem Großmünster gehen,
wo gesungen und gebetet wird, bevor sie den Sarg auf
den Kirchhof bringen und bei Wind und Regen in ein
frisch gegrabenes Loch versenken. Seitdem Heinrich
Pestalozzi die hohen Münsterhallen mit dem Donnerschall
der Orgel gesehen hat, weiß er, wo die Schwester Bärbel
so lange gewesen ist; der Vater aber kommt nicht wieder,
bis er ihn fast vergißt und nur noch manchmal gleich ihm
mit langen Schritten die Stube messen will.

Als wieder Winter wird, nimmt ihn das Babeli eines
Abends schnell bei der Hand, einen Arzt zu suchen; sie
finden den ersten nicht und müssen den zweiten erst aus
einem Wirtshaus holen, wo viele Männer bei der Lampe
in einer qualmigen Stube sitzen. Der läuft gleich mit,

* A»s „Lcbenstag eines Menschenfreundes", Rmnan von
Wilhelm Schäfer (Nerlag Georg Müller, München).

doch geht er bald wieder kopfschüttelnd fort von dem
Bettchen der Schwester Dorothea, und andern Morgens
sagt die Mutter, es sei gestorben an der Bräune. Die
schwarzen Männer kommen zum drittenmal, aber diesmal
tragen sie das Dorli fort, mit dem er jeden Tag gespielt
hat. Seitdem ist ihm das Großmünster ein furchtbares
Geheimnis, und so oft er die Glocken läuten hört, läuft
er zur Stubentür, den Niegel vorzuschieben. Manchmal
aber kommen doch Menschen über die Treppe herein,
die mit der weinenden Mutter sprechen und denen er die
Hand geben muß; er tut es gehorsam, doch immer in der
Furcht, daß sie ihn mitnehmen könnten in das Groß-
münster. Auch wenn die Mutter oder das Babeli ihn
selber an der Hand hinunterführen, ist er nicht froh, bis
er endlich durch die Haustür hineinschlüpfen kann und
oben dic Heimeligkeit der Stube wiederfindet. Und nur
dadurch, daß seine seltenen Ausgänge meist den gleichen
Verlauf nehmen, durch die steilen Gassen und über
Treppen zum Markt hinunter, wo die Limmat unter
den Holzbrücken hindurch ihr reißendes Wasser drängt,
oder Sonntags bis an den gleißenden See hinaus, wo
die Schiffe und Schwäne schwimmen und die Wolken
auf den fernen Bergen Rast machen, die den blauen
Himmel mit ihrem weißen Aackenrand begrenzen: bahnt
sich seine furchtsame Seele allmählich Straßen in die
fremde Unermeßlichkeit, darin die Türme des Groß-
münsters drohend stehen. Sonst aber bleibt die Stube
die einzige Sicherheit seiner Welt.

2.

Einmal macht Heinrich Pestalozzi auch eine Reise an
den See mit seiner Mutter; mittags nach dem Markt
fahren sie hinaus, unaufhörlich am Seeufer hin durch
Dörfer mit weißen Kirchen, durch Weinberge und Matten,
wo die Bauern lustige Haufen Heu zusammenbringen,
bis nach Richterswil, wo der Onkel Johannes wohnt.
Es ist dort ein großes Haus mit einem prächtigen Garten
und vielen fremden Menschen, die seiner schwarzen
Mutter um den Hals fallen und denen er die Hand geben
muß. Auch einen Knaben gibt es, älter als er und wie
ein Soldat mit einem stolzen Federbusch gekleidet; der
führt ihn auf den großen Speicher, wo Korn in Haufen
liegt, durch die Ställe mit unheimlich behörnten Kühen
und stampfenden Pferden, in die Weinberge hinauf zu
einer Bank, die unter einer Linde einen Ausblick auf den
See gibt bis tief in die blauen Bergschlüfte hinein, und
danach an das weiche Ufer hinunter, wo das Ried mit
hohen Halmen aus dem Wasser wächst und seine Büschel
im Wind verneigt. Da haben Jünglinge gerade ein
Schiff losgemacht, und weil der eine ein Bruder des
Knaben mit dem Federhut ist, sollen sie mit einsteigen.
Die Mutter aber kommt gelaufen, todblaß, und trägt
ihn auf den Armen, obwohl er sich dessen schämt und
schreiend wehrt, durch den Garten zurück ins Haus.

Sie bleiben zwei Tage dort, bis sie am dritten Morgen
noch in der Dunkelheit abfahren auf dem selben Bauern-
wagen und in der Morgenfrühe zurückkommen in die
Stadt und in die Stube, wo der dicke Kachelofen mit
der kühlen Steinbank auf sie wartet und das Babeli mit
den Geschwistern ist. Er denkt später nicht gern an diese
Reise; es ist ihm alles fremd geblieben, als ob er nur ge
träumt hätte.
 
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