Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

DOI Heft:
Heft 1
DOI Artikel:
Fries, Heinrich de: Versuch einer Analyse der Linienstile (Gotik und Rokoko)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0026

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Versuch einer Analyse der Linienstile (Gotik und Rokoko).
den Begriff der Fläche, der Punkt schließlich — so weit
überhaupt Formen bildend verwendbar — zerstört die
Linie. Gleichzeitig geht hiermit Hand in Hand die all-
mähliche Zerstörung des Begriffes der Statik, den zu
überwinden die eigentlichste Aufgabe jeder Stilentwick-
lung überhaupt zu sein scheint. Ausgangspunkt für diese
ganze Betrachtung bildet für den Verfasser die Ornamen-
tik an den Ruinen des Kastells von Mschattam im Ost-
Jordanlande, die eine sehr große Verwandtschaft mit
ähnlichen Bildungen der gotischen Stilepoche zu haben
scheinen. Aber wir brauchen garnicht so weit zurück-
zugreifen in eine Zeit, aus der uns nur einzelne Monu-
mente erhalten sind, aus der wir jedenfalls nicht genug
Grundlagen dafür besitzen, um mit einem gewissen Grade
von Sicherheit schon hier die Wirkung des aufgestellten
Gesetzes nachprüfen zu können. Ein uns weit näher
liegendes, völlig klares Bild bietet allein schon die Ge-
schichte der griechischen Säule in sich, deren Formen all-
gemein geläufig sind. Ich will hier nur auf wenige
Punkte aufmerksam machen.
Die Frühform der dorischen Säule ist eine absolute
Zweckform, nach statischen Notwendigkeiten gebildet,
ohne den immer die struktive Form zerstörenden Einfluß
des Dekorativen. Im Anfang ihrer Entwicklung fehlt ihr
die Basis, ihrem Rumpf die Kannelierung, das Kapitellist
einfach und folgerichtig gebildet, es steht zwar schon etwas
gegen den Säulenkörper ab, aber nicht so, daß es das
Gefühl des Tragens der Last illusorisch macht, sondern
eher verstärkt. Auch in den übrigen Formen des dorischen
Stils findet sich die alleinige Anwendung rein zweck-
mäßiger und statischer Prinzipien, die eben darum, weil
sie die vollendete Ruhe ihrer Bestimmung frei von jedem
Pathos in sich tragen, uns unendlich schön erscheinen.
Der ionische Stil geht weiter. Er schafft die Basis und
zerstört ihre anfangs noch struktive massige Grundplatte
durch immer reichere Profilierung. Die Säule selbst er-
hält Kannelierung, die das Gefühl der rein tragenden
geschlossenen Masse bereits durch ihre farbige und lebhafte
Wirkung zu zerstören beginnt. Entscheidend ist die Aus-
bildung des Kapitells, dessen in dekorativen Voluten auf-
gelöste Form von einer drückenden Last und ihrer Auf-
hebung gerade am entscheidenden Punkt des ganzen
Säulenkörpers nichts mehr zu wissen scheint. Und das
Ende dieser Entwicklung bildet die korinthische Säule.
Die Basis ist noch reicher ausgestaltet, die Profilierung
und Ornamentik dem Begriffe des Auffangens des
Druckes ganz zuwiderlaufend, die Kannelierung ist noch
enger, der geschlossene struktive Charakter des Säulen-
kerns noch weiter zerstört. Vollends im Kapitell betätigt
sich diese destruktive Tendenz am stärksten. Die Last des
Oberbaues ruht nicht mehr auf einem massiven tragenden
Organismus, ihrem Drucke angemessen, sondern der
Säulenkopf ist aufgelöst in das üppige Blattwerk des
Akanthus-Motivs, das im Zusammenhang mit sonstigen
Ornamenten den eigentlichen organischen Sinn der Säule
gänzlich verleugnet. Dieser kurze Abriß der Entwicklungs-
geschichte eines einzelnen Baugliedes, der seine Bestäti-
gung in der entsprechenden Behandlung der übrigen
Teile des Baues findet, gibt eine klare Übersicht über den
Weg, der verfolgt werden muß. Wir sehen, daß die
Trennung der einzelnen Fläche von der Masse des Ge-

samtkörpers, die individuelle Behandlung der Flächen
der Basis, des Rumpfes und des Kapitells gesonderte Er-
scheinungen sind, die von der Zweckbestimmung der Säule
nichts mehr zu wissen scheinen und weiter auf diesem
Wege auch die Zerstörung der klaren Gliederung der
Einzelorganismen in sich durch Linien die destruktive
Tendenz der Entwicklung aufs deutlichste klarlegt. Hier-
bei ist zu beachten, daß der rein statiscbe Stil der dorischen
Epoche immerhin schon das Resultat einer längeren Ent-
wicklung darstellt und daß innerhalb dieser Epoche sogar
sich an der Entwicklung des dorischen Stiles die gleichen
Tendenzen verfolgen lassen. Vor allem müssen wir
weiterhin beachten, daß sogar noch im Zeitalter des
korinthischen Stils die griechische Baukunst in ihrer Ge-
samtheit noch immer stark genug erschien in der ruhigen
Schönheit ihrer struktiven Eigenart, um der Ausgangs-
punkt für sämtliche folgende Entwicklungsreihen der
Kunstgeschichte des Abendlandes zu werden. Nur an
dieses und seine Stilentwicklung wollen wir uns hier
halten. Zunächst vor allem, weil der Reichtum der vor-
handenen Kunstwerke eine genügend sichere Untersuchung
verbürgt, sodann weil ein Aurückgehen auf fernere Stil-
epochen zu weit führen würde im Rahmen dieser Arbeit.
Immerhin sind diese Epochen doch schon genügend ge-
klärt, um zum mindesten die Höhepunkte ihrer Entwick-
lung fesistellen zu können, denen immer eine Epoche zu
folgen pflegt, deren eigentlicher Charakter gegenüber der
reichen Schönheit der vergangenen wieder ganz in
Dunkel getaucht erscheint. Als ein bedeutsamer Merk-
stein begegnet uns vor allem die Blütezeit kretischer
Kultur, deren Stilmerkmale mit denen der römischen
Kaiserzeit, wie wir sie in Pompeji und Herkulanum
am deutlichsten überliefert finden, eine überraschende
Ähnlichkeit besitzen. Doch wir wollen uns darauf be-
schränken, den Gesetzen der Stilentwicklung von der
Zeit des klassischen Griechentums bis in unsere Zeit
nachzugehen.
Wenn wir versuchen, hier mit einiger Sicherheit die
großen Wellen des Kunstgeschehens in ihrer periodischen
Wiederkehr festzulegen, so gliedert sich diese ganze Zeit
in ungefähr folgende Epochen. Die Entwicklung der
griechischen Kunst, deren Tendenzen im einzelnen schon
dargelegt wurden, findet ihren letzten Ausklang im Hel-
lenismus der spätrömischen Kaiserzeit. Die nächste Welle
setzt ein ungefähr mit der sogenannten Karolingerschen
Renaissance und führt bis zur Spätgotik. Ihr folgt die
Periode, die, mit der Renaissance beginnend, im Stil des
Rokoko ihren letzten Ausklang findet, und die letzte Welle
fübrt von der Wiedergeburt des klassizistischen Stiles im
Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Hier-
bei sind vor allem zwei Hauptpunkte von großer Bedeut-
samkeit zu fixieren. Einmal der Umstand, daß jede Rück-
kehr zu einem struktiven Stil nach einer Epoche des Ver-
falls mit unfehlbarer Sicherheit gleichbedeutend ist mit
einer Wiederbelebung klassischer Stilformen. Und ferner,
daß in der jeweiligen Periode des Verfalls sich die Stile
in ganz besonderem Maße empfänglich zeigen für die
Aufnahme von Stilformen aus dem Orient, die geeignet
sind, ihnen bei ihrer destruktiven Tendenz gleichsam be-
hilflich zu sein. Auf diese Erscheinung werde ich später
noch zurückkommen.
 
Annotationen