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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 3
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Ernst, Paul: Die Briefe des Verstorbenen: eine Spitzbubengeschichte
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Röttger, Karl: Von des Menschen Einsamkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0109

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Die Briefe des Verstorbenen.

schiebens Gründe hat, über die Polizei verstimmt zu sein,
wirft Langer Rübe einen Strauß gelber Rosen zu, den
sie soeben von einem deutschen Fürsten geschenkt be-
kommen hat; Lange Rübe erhascht ihn, führt ihn an die
Lippen, und reitet weiter unter den entzückten Huldigun-
gen des neapolitanischen Volkes. Man hätte dem Esel
einen anständigen Sattel auflegen können; aber davon
abgesehen ist ein Ritt sehr genußreich. An dem Tor hilft
ihm der Häscher auf das Pflaster, Lange Rübe gibt ihm
ein Trinkgeld und wandert durch das Tor hinaus ins
Freie auf der Straße nach Nom.
Daß die schöne Lucia die nächste Nacht mit den tausend
Skudi und den Briefen zu ibm stößt, versteht sich von selbst.
Von Messer Molinari brauchen wir nun nichts mehr
zu wissen, als daß er noch Unannehmlichkeiten mit der
Kamorra hat, welche zwanzig Prozent von den tausend
Skudi verlangt, weil sie natürlich glaubt, daß die Flucht
mit seiner Einwilligung geschehen ist. Er beteuert, weint,
schwört, und nur mit der größten Mühe gelingt es ihm,
daß nian ihm die Zahlung wenigstens stundet.
Lange Rübe und die schöne Lucia mieten sich einen
eleganten Wagen und kommen wohlbehalten in Nom
an, wo sie zunächst in den besten Geschäften Einkäufe für
Lucia machen. Sie sagen sich, daß sie jetzt Geschäfts-
unkosten haben, denn wenn Lucia etwas verdienen soll,
so muß sie natürlich anständig aussehen. Lange Rübe
zieht inzwischen Erkundigungen ein, ob er die Briefe
nicht verwerten kann; der Kutscher, bei welchem der
Neffe seinerzeit nachgeforscht hatte, vermittelt die Be-
kanntschaft mit dem Neffen; dieser ist erbittert auf die
undankbare Tante, die ihrer Dienerschaft Befehl gegeben
hat, ihn nicht mehr vorzulassen, weil er immer seine elf-
hundert Skudi wiederhaben will; und so trifft er gern
ein Übereinkommen mit ihm. Lange Rübe tritt ihm
einen der Briefe ab und der Neffe schickt ihn an die Tante,
indem er ihr schreibt, sie sehe nun wohl, wie er, trotzdem sie
ihn immer verkannt habe, doch für sie arbeite; er könne
ihr alle Briefe verschaffen; aber freilich müßte er dann
sicher sein, daß er nicht wieder in seinen heiligsten Ge-
fühlen gekränkt werde. Kurz und gut: die Tante geht
mit ihm zum Notar und verschreibt ihm schon bei ihren
Lebzeiten ein Gut unter der Bedingung, daß er den
Besitz erst nach ihrem Tode antritt, und Lange Rübe
bekommt für die Briefe von dem Neffen noch neunhundert
Skudi; er hatte tausend verlangt, aber der Neffe zog die
hundert ab, die er für die Nachforschungen ausgegeben hatte.
„Schließlich ist mit alten Damen doch immer etwas
zu machen, man muß nur tatkräftig und zielbewußt vor-
gehen," sagt Lange Rübe zu der schönen Lucia; sie be-
wundert und küßt ihn und verspricht, er werde sich ihrer
nicht zu schämen brauchen, denn sie wolle ihm zeigen,
daß auch die alten Herren ausgiebig sind, wenn man sie
nur mit Verstand behandelt.
(V>on des Menschen Einsamkeit.
Von Karl Röttger.
Denn es ist immer nur die eine Melodie, die da ge-
sungen wird: des Menschen Sehnsucht. Immer nur der
eine Gesang: das Rätsel, das Rätsel! — Er singt in den

Liedern der Liebe, des Hasses und der Schwermut.
In den Liedern von der Treue, die doch ein Wahn ist.
Aber auch ein Traum ist, der gern wahr werden möchte.
Sieh, was ist der Mensch? Ein Tier? Oder ein Unge-
heuer?— Nur nicht Gott. Das sage niemand. Auf daß
nicht die Kraft eines heiligen Zorns ihn zerschmettere.
Was ist der Mensch? Ein schmerzhaft zuckend Wesen;
sucht Ruhe und findet sie nicht. Und träumt doch den
Frieden und das Glück und die Gemeinsamkeit.-
* *
*
Wohl, ich habe von der Einsamkeit gesagt und habe
ihr Gesänge geschrieben und bin in ihr gewesen all
mein Lebtag. Und es stehet geschrieben, daß sie das
Größte und Gewaltigste ist, was den Menschen über-
kommt; das Brot, davon er lebt; die Luft, die um sein
Herz und seine Stirn weht, und daß er sie braucht,
so wie das Heilige — um zu sein, um zu wachsen
und zu werden .... Das aber ist auch ein Geheimnis,
daß Menschen einsam sind durch viele Jahre, und wissen
es nicht. So das Kind; lebt, wächst als ein namenlos
einsamer kleiner Mensch, und lebt doch bei Vater und
Mutter und bei Geschwistern und bei den Kameraden
in der Schule und auf der Siraße. Und wächst immerzu
und nimmt zu an Leib und Geist. Ist aber einsam,
wie selten einer. Einsam auch bei Vater und Mutter.
Und da sind die Jünglinge und Jungfrauen, die Mädchen
auch, die wie erste Knospen sich auftun und ganz anders
und ganz verwundert in die Welt schauen. Und sie lachen
dabei und schauen einander an; und sehen in die Sonne,
und in den Frühling, in den Sommer und in den bunten
Herbst. — Schreiten durch die Landschaft; sonnig, mit
Lachen und kühn. Wandern und rasten miteinander,
tun Blicke zueinander, in denen erste Freundschaft oder
auch beginnende Liebe ist. Aber es ist nur etwas zwischen
ihnen; und sie wissen nicht, daß es Sehnsucht ist. Und sie
wissen nicht, daß sie einsam sind bei aller Gemeinsamkeit,
und sie würden den zornig anschreien, der es ihnen zu
sagen wagte.
Hernach, wie lange hernach? kommt die Reife und
beginnt eine Schwermut vor dem immer offener
werdenden Blick der Seele, die da erkennt! — —
*
*
Man müßte vielleicht zurückgehen in der Forschung
und fragen: woher der Mensch komme. Aus welcher
schweigenden dunklen Tiefe (od^r isUs keine Tiefe,
sondern Weltweite?) er anhebe zu sein. Wo der Weg
beginne! Aber beginnt überhaupt der Weg? Ich war
wohl von allem Anfang an. Und war vielleicht immer
allein. Und träumte wohl immer so meine Worte und
Reime. Und träumte wohl auch immer den Frieden.
Zuvor aber ist das Leid, von dem Christus sagt, daß es
auch ein Glück sei. Aber das ist schwer zu fassen lind schwer
zu leben.
So sind wir wieder bei demselben Rätsel, denn woher
der Mensch sei, das sehen wir nicht. Noch nicht. Wir
können nur träumen, daß man es vielleicht einmal
sehen werde und daß man einmal die Lösung des
Rätsels wissen werde. Denn es gibt nur ein Rätsel.
Und das ist der Mensch mit seiner Unerforschbarkeit.
Aber der Traum ist der Traum, weil er wahr werden

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