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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 28.1918

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Heft 3/4
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Schäfer, Wilhelm: Christian Wagner
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Wagner, Christian: Zehn Gedichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.26488#0072

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Shristiarr Wagner s.

— von welchen Dichtern darf man mehr sagen? — aber
nur, wer gebildet genug ist, ihr seelisches Wesen, ihr
religiöses Dasein überhaupt zu fühlen, kann sich zur
Kritik berechligt halten. Die Strenge des angeführten
Mörikewortes von der seligen Ruhe in sich selbst ist leider
noch wenig begriffen worden; der „gebildete Leser"
von heute ist allzuleicht bereit, den seligen Mittelpunkt
in seinem persönlichen Wohlbehagen zu finden; was ihm
da eingeht, findet er schön und das andere lehnt er ab.
Das ist jene Ausfassung der Kunst, die Tolstoi als Lurus
mit allem Haß jeiner leidenschaftlichen Seele gegeißelt
hat; daß sie nicht auch bei uns die landlaufige sei, wird
auch der mildeste Aeuge kaum leugnen wollen.

Man hat bisher — allerdings in einer begreiflichen
Vorliebe — von ästhetischer, künstlerischer, literarischer
Bildung gesprochen, wie wenn es tatsächlich Lurusgebiete
und Anhängsel der wirklichen Bildung seien. Nur so
ist es möglich gewesen, daß die leidenschaftlichen Vor-
gänge der Bildung dem „Gebildeten" unbekannt blieben,
daß die wirklichen Geister im deutschen Volk ein Dach-
kammerdasein führen mußten. Als Nietzsches Lehre dem
Behagen unangenehm wurde, erklärte man ihn für einen
Dichter, um ihn loszuwerden, d. h. man schob ihn in
das Lurusgebiet ab, wo nach der landläufigen Meinung
die „Subjektivität", die Willkür und Laune abseits vom
sonstigen Dasein ihren Einfällen leben. Nur aber weil
wir keine wirkliche Bildung als Grundlage eines geistigen
Lebens haben, jind solche Vorstellungen des dichterischen
Daseins möglich; solange wir darin nicht eine gründliche
Einkehr erleben, bleibt alle in sich selber ruhende Schön-
heit in einer Art Verbannung, die freilich ihr Dasein
an sich nicht berührt, aber ihre Wirkung auf die besagte
Dachkammer beschränkt. Denn leider ist es nicht etwa so,
daß die „Neueren" nur noch nicht „durchgedrungen"
wären, wie der beliebte Ausdruck lautet: wo Mörike
wirklich lebte, wäre auch Christian Wagner lebendig;
es kommt so wenig Lebendiges, daß es einer wirklich
lebendigen, d. h. gebildeten Zeit kaum so lange verborgen
bleiben könnte, wie es nach einigen andern diesem
Bauerndichter geschah.

Solange Hermann Hesse im Auftrag des Frauen-
bundes zur Ehrung rheinländischer Dichter — wo ist
diese meine liebste Gründung geblieben? — seine Aus-
wahl noch nicht gemacht hatte, ließ sich zur Entschuldigung
des deutschen Lesers sagen, daß die Bücher Christian
Wagners mit zuviel Ballast beladen seien. Seitdem aber-
diese Auswahl (im Verlag Georg Müller, München)
vorliegt — und das ist seit 1913 — gilt diese Entschul-
digung nicht mehr. Auch sollte man nicht entgegnen,
der Deutsche liebe die Lyrik nicht. Von Rudolf Herzogs
Kriegsgedichten erschien unterdessen das 70. Tausend;
freilich sind die wohl nicht „Lauteres Gold der Dichtung",
wie das Literarische Aentralblatt schrieb, eher wohl
Blech, und gewiß kein Bestandteil der Bildung. Jmmer-
hin erschien dieses Blech doch auch im lyrischen Aufputz;
als o die äußere Form ist es nicht, die den Deutschen
abhält, Gedichte zu lesen, sondern der Jnhalt. Und da
bedeutet der Weg von der schwadronierten Phrase zum
schlicht gesagten Gefühl allerdings die Straße, die zur
Bildung zurückgelegt werden müßte, um diesem Bauern-
dichter nahezukommen. f772) W. Schäfer.

Zehn Grdichte von Christian Wagner*).

Spätes Erwachen.

So wie ein Mensch nach lärmendem Gelag
Noch spät zu Mitternacht nicht schlafen mag
Und seine Ruh erst findet knapp vor Tag;

Und süß erst schläft beim hellen Morgenschein,
So reichte in die Jugend mir hinein
Versäumter Schlaf von eineni vorigen Sein.

O wüßt ich doch, was mich nicht schlafen ließ!
Ob mich ein Gott vom Bacchanal verstieß?

Ob ich betrunken kam vom Paradies?

Dereinst.

Es wird dereinst auf Erden
Noch sein ein Ruhen:

Bei vollen Truhen
Sie schlafen werden.

Es wird dereinst auf Erden
Noch sein Genügen:

Jn vollen Iügen
Sie trinken werden.

Es wird dereinst auf Erden
Noch sein Gewähren:

Jn Königsehren
Sie thronen werden.

Es wird dereinst auf Erden
Nicht sein mehr Hoffen:

Den Himmel offen
Sie sehen werden.

4-

Totenfeier.

Auf, heran zu dieseni Mutterfeiern,

Kinder, kommt!

Tun wir, was uns selber, was der teuern
Toten frommt:

Jhr Geburtstag ist. Nach frommer Sitte
Schön und wahr

Bitten wir sie her in unsrer Mitte
Kleine Schar.

Jhren Sessel rücket an die Stelle,

Wo er stand,

Ehe noch des Auges klare Helle
Jhr entschwand;

Bringt ihr Leibgericht und ihren Teller
Füllet stisch,

Stellt ihr Glas mit goldnem Muskateller
Auf den Tisch!

Also stehet: Alle Sinne schärfend
Wie auf Wacht,

Heiliger Sehnsucht Wollen unterwerfend
Grab und Nacht.

*) Aus der Auswahl der Gedicht« von Christian Wagner,
besorgt von Herrnann Hesse (Verlag Georg Müller, München).
 
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