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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 29.1919

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Heft 1/2
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Herrigel, Hermann: Der deutsche Weltberuf
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https://doi.org/10.11588/diglit.26487#0032

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us Büchern von Alfons Paquet.

Schrecken*).

„Vielleicht wäre ich damals unter die Räder ge-
kommcn, wenn mich ein heilsamer Schreck nicht zur
Besinnung gebracht hätte. Zweimal schlief ich im Asyl.
Da man dort nach dem Namen nicht gefragt wird, so
ging ich ruhig hin, aber öfter als dreimal darf man nicht
kommen. Mit zwei andern Leuten war ich am zweiten
dieser Abende unter den letzten gewesen, die man ein-
gelassen hatte. Uber unsern Drahtbettslellen standen
die Nummern 691, 692, 693.

Der eine war ein kleiner Knirps, ein Tischlergeselle.
Wir waren vor dem Einschlafen miteinander bekannt
geworden. Er hatte uns, die wir mit den Gesichtern
ihm zugewendet dalagen, zugeflüstert, daß er seinem
Vater fortgelaufen sei. Vor ein paar Tagen sei er
aus Werneuchen gekommen und seitdem in der
Stadt umhergezogen. Auletzt mit einem alten Kerl,
einem früheren Metzgermeister. llbrigens habe er vor,
Schiffsjunge zu werden. Wir sollten doch morgen mit
ihm nach Hamburg gehen. Darüber war er mit einem
vergnügten Gesicht eingeschlafen und hatte angefangen
zu schnarchen.

Der andere, im Bett Nummer 691, hatte mir erzählt,
er sei früher Lederarbeiter gewesen und sei jetzt Kohlen-
träger. Er stand bis obenhin voll Jammer. Er habe
eine Stellung, aber er getraue sich nicht mehr hinzugehen,
weil er mit einem Kollegen in Streit geraten sei. Außer-
dem habe er seinen ganzen Lohn in der Kneipe gelassen,
er könne seiner Wirtin das Schlafgeld nicht bezahlen.
,Jch gehe mit nach HamburgH sagte er. ,Gebt bloß auf
mich acht, daß wir in keine Kneipe kommen. Alles, nur
das nicht!^

Jch hatte den beiden am Abend ein Beispiel geben
können, das ihnen Eindruck machte. Beide hatten in
ihren Schuhen schlafen wollen, denn es kam vor, daß
cinem hier in der Nacht die Schuhe gestohlen wurden.
Jch aber hatte meine Schuhe ausgezogen und die beiden
unteren Bettpfosten hineingesetzt. Das machten sie mir
nach. Jch hatte diesen guten Nat selber erst am Abend
vorher in diesem Asyl von einem alten Kerl erhalten,
der neben mir auf seinem Bett gesessen hatte und seine
Stiefel mit nassem Aeitungspapier sorgfältig putzte und
sie dann auf die beschriebene Art in Sicherheit brachte.
Er war ein alter ehemaliger Herrschaftsdiener, mit
Medaillen auf der Brust, mit Bartstoppeln auf den
eingefallenen Backen, mit einer schmutzig-weißen Binde
und hellgestreifter Weste. Er war früher einmal in
Amerika gewesen.

Aber ich wollte ja von den beiden andern Leuten
erzählen. Um vier Uhr morgens riß uns eine überlaute
elektrische Schelle aus dem Schlaf. Das hieß sofort
aufstehen, sich waschen und das Haus räumen. Wir
fünfzig Mann im Saal erhoben uns fast gleichzeitig,
mit uns alle die siebenhundert in den vierzehn Sälen
an den Seiten des Ganges. Wir falteten unsere Drell-

*) Aas „Crzählungcn an Bord". Verlaa ven tvättcn L Loe-
ning, Frankfmt a. M.

decken zusammen und legten sie nach Vorschrift ans
Fußende des Lagers. Dann gingen wir zu den Wasch-
becken. Es schellte noch einmal durch das ganze Haus.
Das war das Aeichcn, daß wir am Schalter der Küche
anzutreten hatten. Dort bekam jeder ein altbackenes
Brötchen und einen Becher mit heißer Kaffeebrühe,
fünf Minuten später standen wir wieder an der srischen
Luft: das Tor wurde sofort hinter uns geschlossen.
Einige kleine Trupps blieben noch beisammen, gerade
so lange, als es dauerte, bis die wenigen, die im Besitze
einer Aigarette oder eines Aigarrenstummels waren,
sich Feuer geben lassen konnten. Dann verschwanden alle
wie spurlos in den kahlcn, rein gefegten Straßen. Der
Morgen war kalt und sonnig.

Jch war wieder mit dcm Kohlenmann zusammen.
Der Kleine lief wie ein Hündchen bald hinter uns,
bald vor uns her und schwenkte seine langen Arme mit
den großcn Händen. Wir verspürten Hunger. Auf
einmal war der Kleine verschwunden. Wir beiden
gingen langsamer, doch ohne uns nach ihm umzusehen.
Nach einer Weile war er wieder bei uns. Unter seiner
Jacke hielt er einen weißen, mit blauen und roten Stern-
chen zierlich gestickten Sack voll frischer warmer Brötchen.
,Wenn das einer sieht!^ meinte der Kohlenmann er-
schrocken. Aber der Kleine verteilte rasch die Portionen
und schob das leere Säckchen durch einen Gartenzaun.
Dann, während wir gemächlich kauend weitergingen,
meinte er: ,Das muß für eine größere Familie gewesen
sein^.

Wir gingen quer durch die ganze Stadt bis zur
Jungfernheide. Draußen legten wir uns ins Gras;
der Tau war schon geschwunden, die Sonne machte
warm. Gegen Mittag, als es anfing heiß zu werden —
es war im August — setzten wir uns an den Kanal
und betrachteten die Kähne, die vorüberzogen. Auch
Angler saßen da, und indem wir ihnen zusahen, verging
die Aeit.

Als endlich die Schatten länger wurden, wurde es
uns plötzlich klar, daß wir eilen müßten, um zeitig ins
Asyl zu kommen, denn es wurde schon um sechs ge-
schlossen. Es war noch so schön hier draußen. Da machte
der Kleine den Vorschlag, entweder hier draußen im
Freien zu übernachten, oder in die Stadt zu gehen.
Die Kaserne am Aleranderplatz sei im Abbruch. Dort
könnten wir Quartier beziehen. Er hatte schon einmal
dort geschlafen. Wir überlegten nicht lange. Wir konnten
nicht mehr den ganzen Abend hier draußen bleiben und
eine endlose kalte Nacht. Der Kohlenmann fürchtete
zwar, die Polizei werde uns in der Stadt ausheben.
Aber das sagte er erst, als wir schon unterwegs waren.
Es war ziemlich weit bis zum Aleranderplatz. Doch wir
wollten die Straßen sehen mit ihren blinkenden Läden,
den Elektrischen, dcn Wagen und Gäulen, wenn wir
auch mitten in dieser großen lebendigen Lichterbewegung
nichts als drei sehr bedenkliche Fußgänger waren.

Der Kleine versicherte uns, daß wir in der Kaserne
geborgen seien. Es übernachteten dort fast immer noch
andere Leute. Auch müßten wir ja auf dem Weg nach
Hamburg mitten durch die Stadt und am andern Ende
hinaus. Dann lief er betteln und hatte nach einer Stunde
elf Pfennig und ein paar Stücke Brot beisammen. Wir

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