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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn (1): Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn — Wien: Österreich. Staatsdruckerei, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.75259#0072
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62

SCULPTUR.

scheinbar im hohen freien Luftraum schwanken zu sehen vermeint. Gegenüber einer solchen Auf-
fassung möge Folgendes zu Gunsten des gemeinantiken Charakters des Titus-Reliefs geltend
gemacht werden. Vor allem erscheinen die Figuren trotz der trennenden Schatten in den Umriss-
linien noch immer so enge aneinander gedrängt, dass die künstlerische Absicht offenbar noch immer
fast ebenso viel auf Verbindung als auf Trennung, der Nachbarflächen gerichtet gewesen sein
muss. Dass aber die künstlerische Einheit auch in diesem Falle nicht in der Raumcomposition,
sondern in der Ebencomposition gesucht war, ergibt sich nicht sowohl aus dem Fehlen alles
Hintergrundes, als vielmehr aus der Brechung der Figurenmasse in drei Gruppen, deren jede in
der Mitte von einem die durchlaufende Horizontale überragenden Kopfe gekrönt und somit centra-
lisiert erscheint; wäre uns das Relief in minder beschädigtem Zustande erhalten, so würden ver-
muthlich die einander in der Verticalen und Horizontalen schneidenden Linienrelationen zwischen
den einzelnen Figuren noch weit klarer hervortreten. Völlig deutlich offenbart sich aber die antike
Schranke in der Raumrelation zwischen den Trägern und dem Bogen, unter welchem sie hindurch
schreiten sollen: nach der Ansicht, in welcher beides dargestellt erscheint, werden die Träger
unfehlbar an dem (übrigens auch in den Maßverhältnissen viel zu kleinen) Bogen vorbeigehen
oder gar an seine vortretende Mauer anrennen. 1 Es wäre aber weit gefehlt, darin die Folge
einer Unzulänglichkeit des ausführenden Meisters zu suchen; denn dieser hat sich gar nicht
beifallen lassen, das Raumverhältnis zwischen Trägern und Bogen zum Gegenstände seiner künst-
lerischen Wahrnehmung und zum Problem seiner künstlerischen Durchführung zu machen, worin
er vielmehr ein höchst störendes Hindernis für seine Ebencomposition erblickt hätte. Dies
ist in der antiken Kunst überhaupt niemals, in der neueren hingegen nicht erst zur Zeit des
Velasquez, sondern bereits zu derjenigen des Ghiberti und Donatello geschehen, trotz der
taktischen Behandlung der Einzelform bei diesen Quattrocentisten. Wenn schon das besprochene
Relief einen Ausschnitt aus der Unendlichkeit bedeuten soll, so könnte höchstens an einen solchen
aus der unendlichen Ebene (entsprechend der gleichzeitig vorwaltenden Neigung zu cyklischen
Darstellungen, worüber weiter unten S. 65 ein Näheres), nicht aber aus dem unendlichen Raume
gedacht werden; es lässt sich jedoch, streng genommen, nicht einmal dieses behaupten, denn das
Ziel der in der Ebene vorüberziehenden Träger ist in dem Thorbogen fest und abschließend
gegeben.
Aber auch das oberste Grundprincip der in der früheren Kaiserzeit vollzogenen Neuerungen
in der bildenden Kunst, die optische Auffassung, lässt sich, wie schon vorhin (S. 58) angedeutet
wurde, wenigstens in ihren Anfängen bereits in der hellenistischen Zeit nachweisen. Es erhellt
dies namentlich aus dem Wechsel, der sich in den letzten vorchristlichen Jahrhunderten hin-
sichtlich der Bedeutung der Linie in der Malerei (und der mit ihr stilistisch identischen
Gravierung in Metall) vollzogen hat.
Bei den Altegyptern hatte die Linie den taktischen Umriss der stofflichen Einzelform
bedeutet. Der menschliche Körper war von einer dunklen Linie umzogen, desgleichen die Haar-
massen, die Augen, die Lippen, ferner die Gewandung; dagegen fehlte eine Modellierung, das

1 Eine ähnliche, noch befremdendere Hintansetzung der Relationsgerechtigkeit hat Wickhoff an dem zweiten Relief des Titus-
Bogens beobachtet, die sicli natürlich aus der gleichen Ursache erklärt. Was aber den zur bloßen Hälfte ausgeführten Bogen betrifft, so hat man
sich nur zu fragen, was im gegebenen Falle ein Moderner gemacht hätte: er würde den Bogen zur Gänze, aber in Verkürzung dargestellt
haben. Der antike Künstler ließ ihn, genau wie die menschliche Figur, ungefähr zur Hälfte schräg aus der ideal-stofflichen Grundfläche
hervorwachsen.
 
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