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Riegl, Alois
Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn (1): Die spätrömische Kunst-Industrie nach den Funden in Österreich-Ungarn — Wien: Österreich. Staatsdruckerei, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.75259#0132
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SCULPTUR.


Fig. 43. Koptischer Grabstein; Kalk. Sammlung Figdor in Wien.

liegen die Figuren übereinander: jede isoliert
und selbständig in dreidimensionaler Voll-
räumigkeit, aber unter geflissentlichem Aus-
schluss alles dessen, was als circulierender
Luftraum zwischen den Figuren erscheinen
könnte. — Die regelmäßige Bildung der
Gesichtszüge und die genauere Beobachtung
der Proportionen an der Einzelfigur über-
haupt erweist dieses Diptychon ebenfalls
als aus griechischem Kunstwollen hervor-
gegangen. 1
Am weitesten erscheint die einseitige
Hervorhebung der isolierenden Wirkung der
cubischen Räumlichkeit und die Unter-
drückung der Ebenverbindungen — also
alles, was die spezifische Eigenthümlichkeit
des Kunstwollens der spätrömischen Periode
ausmacht — in demjenigen Ableger der-
selben gesteigert, den wir an den Sculpturen
(namentlich Grabsteinen) der koptischen

Christen (monophysitischen Griechen, zum Theile altegyptischer Abstammung) in Egypten,
zumeist aus dem siebenten und achten Jahrhundert, beobachten können. Der Grabstein Fig. 43
(bei Dr. Albert Figdor in Wien) zeigt eine Figur in Orantenpose, 2 zwischen zwei Pilastern,

1 ) Da hier nicht eine Gesammtdarstellung der spätrömischen Kunst, sondern nur eine Darlegung der Gesetze, in denen das damalige
Kunstwollen zum Ausdrucke gelangte, beabsichtigt ist, kann nur auf wenige Denkmäler im besonderen eingegangen werden; doch dürfte
es zur Klärung im allgemeinen beitragen, wenn noch zwei Elfenbeinwerke mit einigen Worten auf ihre kunsthistorische Stellung untersucht
werden. Das eine ist das sogenannte Amalasuintha-Diptychon (die Tafel des Bargello abgebildet im Jahrb. der kgl. preuß. Kunstsamml.,
XIX. 84; bei Molinier, Ivoires Taf. V), das auf den ersten Blick im constantinischen Reliefstil ausgeführt scheint, wiewohl es gewiss an
zweihundert Jahre jünger ist als die Epoche Constantins. Das würde nun allerdings der vorhin gegebenen Entwicklung arg widersprechen;
es handelt siclr hiebei aber um eine völlig normale Fortbildung in einem ausnahmsweise gegebenen Einzelfall. Die Königin ist in einer
rotundenförmigen überkuppelten Aedicula freistehend gedacht; hätte sie der Künstler etwa wie den Probus oder Felix der Consulardiptychen
unter einen Bogen auf flachen Grund gestellt, so wäre sie im idealen Raume stehend erschienen, während es dem Künstler gerade darauf
ankam, die Aedicula als Tabernakel, geschlossenen Innenraum erscheinen zu lassen. Eine solche Auffassung ist nicht constantinisch, und
schon der frei herausgearbeitete, unterhöhlte Vorhang wäre in der constantinischen Zeit nicht nachzuweisen und wohl nicht denkbar.
Dagegen entspricht die Tendenz auf Schaffung von fest begrenzten Innenräumen durchaus der spätrömischen Kunst; am Probianus-
Diptychon (und im vatikanischen Virgil Nr. 3225) treten uns solche mit drei Wänden entgegen; im Ashburnham-Pentateuch (Fol. 25)
begegnen merkwürdige Versuche, dem Beschauer einen Einblick in völlig geschlossene vierwandige Gemächer zu verschaffen. Es sind
directe Übergangsglieder zur neueren Kunst. — Das zweite ist der vielbesprochene Engel mit der griechischen Inschrift im British-Museum
(abgebildet unter anderem bei Molinier, Ivoires Taf. V). Seine „Schönheit" hat bei einigen Autoren Begeisterungsausbrüche hervor-
gerufen. Die Figur liefert in der That einen lehrreichen Beweis dafür, wie diese als barbarisch verschriene spätrömische Kunst im Grunde
noch immer auf dem gemein-antiken Boden stand. Das Wunder wurde im vorliegenden Falle durch eine geringe Vermehrung von Sorgfalt
in der Beobachtung der Ebenrelationen zuwege gebracht: namentlich durch die regelmäßige Gesichtsbildung und die taktisch gelegten
Haare und Gewandfalten. Wie wenig es dabei auf eine grundsätzliche Retablierung der Verbindungen in der Ebene abgesehen war, beweist
die hölzerne Gesammthaltung, die mangelhaft beobachteten Gelenke und die Stellung der Füße, die auf den Treppenstufen nicht feststehen,
sondern darüber schief herabgleiten: also die typische Schwebestellung in Obersicht der meisten spätrömischen Figuren, die die Eben-
relation zum Fußboden offenbar aus Grundsatz vernachlässigen. Der Künstler hat es geflissentlich vermieden, eine bestimmte momentane
Art des Stehens auf den Stufen darzustellen, da sein Streben vielmehr darauf gerichtet war, das Stehen über den Stufen an sich, als
objectiven Typus, dem Beschauer vor Augen zu führen und die Füße vermittels der Obersicht als tiefraumerfüllend zu charakterisieren.
2 Die Augen der Figur sind nur durch die beiden Brauen markiert, die Augäpfel hingegen sind unterdrückt. Da von einer einst-
maligen Ergänzung der letzteren mittels Malerei aus verschiedenen Gründen nicht die Rede sein kann, so verlangt diese höchst auffallende
Erscheinung eine Erklärung, die wohl nur im Zusammenhänge mit einer Untersuchung der übrigen einschlägigen Denkmäler in den Museen
zu Gize und Alexandrien gegeben werden könnte.
 
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