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besetzten Vorhang gedämpft, spiegelt sich in Erhöhungen und Vertiefungen des glatten
Holzes und liegt auf all den Stützen, Säulchen und Figuren der Renaissanceschnitzerei
und in dem Rahmen eines großen alten Gemäldes, das über den Betstühlen hängt. Um
dieses ernste Interieur zu beleben, stellte Segantini einen kleinen Chorknaben, von rückwärts
gesehen, und zwei große Pulte hinein, wovon das niedrigere ein schweres, aufgeschlagenes
Gesangbuch trügt. Die Komposition war geschickt, aber die Ausführung geplagt und
mühevoll; ohne jede Spur von Leichtigkeit war nur nach genauer Wiedergabe des Ge-
schauten gezielt. Und trotz alledem trug das Werk nicht den Stempel der Trockenheit,
die bei dem jedenfalls schülerhaft peinlich korrekt konstruierten, perspektivischen Schema
fast unvermeidlich schien; auch die plastische Wirkung war nicht ohne gute Qualitäten
in der Ausführung. Außergewöhnlich aber, den Künstler und Neuerer verratend, ist der
Umstand, daß die ganze Lichtpartie des Bildes in prismatischer Farbenzerteilung gemalt
war. Man glaubte ein wirkliches Strahlenbündel durch das feierlich ernste Halbdämmer,
auf den weihrauchgeschwärzten Mauern, der hundertjährigen Holzvertäfelung und den
verblichenen Seidenstoffen flimmern zu sehen. Und zu jener Zeit wußte Segantini gewiß
nichts von wissenschaftlichen oder künstlerischen Farbentheorien; er hatte nur bemerkt, daß
die Bilder jener Zeit ohne Luft- und Farbenperspektive gemalt waren, und instinktiv ein
Mittel, dieselbe auszudrücken gesucht und auch gefunden. Mit dieser überraschenden
Neuerung war sein Name gemacht, und für einige Zeit besaß er so großen Einfluß auf
die junge Generation, daß er mit Leichtigkeit dieselbe gegen alle akademische Dogmatik
aufreizen konnte. Er zählte damals neunzehn Jahre.
Wir lassen ein autobiographisches Fragment folgen, welches Segantini für das
„Studio"*) geschrieben hatte und worin er die vorgenannten Tatsachen im allgemeinen
zusammenfaßt. Sympathisch berührt die Bescheidenheit und völlige Abwesenheit süd-
ländischer Prahlerei, mit welcher er diese Angelegenheit, die seiner Eigenliebe doch so
sehr schmeicheln mußte, erzählt.
„Es war an einem Feiertag, als ich an mein kleines Dachfenster gelehnt, die von
den Strahlen der scheidenden Sonne verklärten Giebel, Türme und Dächer der lombardi-
schen Hauptstadt betrachtete. Unsagbar einsam und verlassen fühlte ich mich seit einiger
Zeit, denn ich war neunzehn Jahre alt und von unendlichem Liebessehnen erfüllt. Ich war
soeben ans einem Jnstrumentalkonzert zurückgekehrt; die Töne hatten meine Seele erhoben
und befreit und mit wunderbarer Seligkeit erfüllt. Wie berauscht fühlte ich mich von
dem wirren Reigen, in welchem tausend unbestimmbare Formen voll süßer Rhythmik sich
ineinandergeschlnngen hatten; höher und höher schwebend, dann verklingend, waren sie
über mir zerstoben und wie ein leichter Schauer von Rosenblättern auf mein Herz ge-
fallen. Meine Seele, zur Wirklichkeit zurückgekehrt, spann sich in Liebesgedanken ein.
Als ich den Saal verließ, kam es mir vor, als sei ich größer geworden, mein Gesicht
trug ein Lächeln und alle, die mir begegneten, schienen voll Güte. In dieser Verfassung
war ich dann in eine moderne Ausstellung gegangen, aber die Bilder schienen mir un-
bedeutend und leer. Keines von allen vermochte meine Gedanken zu fesseln. Ich sah
nichts darin, als das Bestreben des Malers, niederzuschreiben, was sein Auge gesehen.
Lange Zeit verweilte ich bei einem der größeren Gemälde; es war eine Landschaft und
flott mit breiten Pinselstrichen auf die Leinwand gesetzt. Aus den bewundernden Reden
der Umstehenden ersah ich, daß es für eine tüchtige Leistung gelte. Ich beschaute es
näher und genauer, aber immer konnte ich nichts anderes daran finden, als eben die
breite Technik; daraus schloß ich, daß für jene Leute die Schönheit der Malerei in der
Tatsache bestand, einen breiten Pinsel zu führen und ihn geschickt zu gebrauchen.
Während ich derart an meinem Fenster träumte, fiel die Dämmerung ein, und in
den Straßen flammten schon einzelne Lichter auf. Da, ein wohlbekanntes Klopfen an
der Tür; mein Freund, der Bildhauer, kommt mich zum allabendlichen Plaudergang
in den Straßen abzuholen. Unten angelangt sage ich: ,Du weißt, ich war in der Aus-
stellung, aber nichts hat mir gefallen/ Mitleidig lächelnd antwortet er: ,Du verstehst
*) Erschienen als Artikel, Burnley Bibb gezeichnet, im XI. Band.
besetzten Vorhang gedämpft, spiegelt sich in Erhöhungen und Vertiefungen des glatten
Holzes und liegt auf all den Stützen, Säulchen und Figuren der Renaissanceschnitzerei
und in dem Rahmen eines großen alten Gemäldes, das über den Betstühlen hängt. Um
dieses ernste Interieur zu beleben, stellte Segantini einen kleinen Chorknaben, von rückwärts
gesehen, und zwei große Pulte hinein, wovon das niedrigere ein schweres, aufgeschlagenes
Gesangbuch trügt. Die Komposition war geschickt, aber die Ausführung geplagt und
mühevoll; ohne jede Spur von Leichtigkeit war nur nach genauer Wiedergabe des Ge-
schauten gezielt. Und trotz alledem trug das Werk nicht den Stempel der Trockenheit,
die bei dem jedenfalls schülerhaft peinlich korrekt konstruierten, perspektivischen Schema
fast unvermeidlich schien; auch die plastische Wirkung war nicht ohne gute Qualitäten
in der Ausführung. Außergewöhnlich aber, den Künstler und Neuerer verratend, ist der
Umstand, daß die ganze Lichtpartie des Bildes in prismatischer Farbenzerteilung gemalt
war. Man glaubte ein wirkliches Strahlenbündel durch das feierlich ernste Halbdämmer,
auf den weihrauchgeschwärzten Mauern, der hundertjährigen Holzvertäfelung und den
verblichenen Seidenstoffen flimmern zu sehen. Und zu jener Zeit wußte Segantini gewiß
nichts von wissenschaftlichen oder künstlerischen Farbentheorien; er hatte nur bemerkt, daß
die Bilder jener Zeit ohne Luft- und Farbenperspektive gemalt waren, und instinktiv ein
Mittel, dieselbe auszudrücken gesucht und auch gefunden. Mit dieser überraschenden
Neuerung war sein Name gemacht, und für einige Zeit besaß er so großen Einfluß auf
die junge Generation, daß er mit Leichtigkeit dieselbe gegen alle akademische Dogmatik
aufreizen konnte. Er zählte damals neunzehn Jahre.
Wir lassen ein autobiographisches Fragment folgen, welches Segantini für das
„Studio"*) geschrieben hatte und worin er die vorgenannten Tatsachen im allgemeinen
zusammenfaßt. Sympathisch berührt die Bescheidenheit und völlige Abwesenheit süd-
ländischer Prahlerei, mit welcher er diese Angelegenheit, die seiner Eigenliebe doch so
sehr schmeicheln mußte, erzählt.
„Es war an einem Feiertag, als ich an mein kleines Dachfenster gelehnt, die von
den Strahlen der scheidenden Sonne verklärten Giebel, Türme und Dächer der lombardi-
schen Hauptstadt betrachtete. Unsagbar einsam und verlassen fühlte ich mich seit einiger
Zeit, denn ich war neunzehn Jahre alt und von unendlichem Liebessehnen erfüllt. Ich war
soeben ans einem Jnstrumentalkonzert zurückgekehrt; die Töne hatten meine Seele erhoben
und befreit und mit wunderbarer Seligkeit erfüllt. Wie berauscht fühlte ich mich von
dem wirren Reigen, in welchem tausend unbestimmbare Formen voll süßer Rhythmik sich
ineinandergeschlnngen hatten; höher und höher schwebend, dann verklingend, waren sie
über mir zerstoben und wie ein leichter Schauer von Rosenblättern auf mein Herz ge-
fallen. Meine Seele, zur Wirklichkeit zurückgekehrt, spann sich in Liebesgedanken ein.
Als ich den Saal verließ, kam es mir vor, als sei ich größer geworden, mein Gesicht
trug ein Lächeln und alle, die mir begegneten, schienen voll Güte. In dieser Verfassung
war ich dann in eine moderne Ausstellung gegangen, aber die Bilder schienen mir un-
bedeutend und leer. Keines von allen vermochte meine Gedanken zu fesseln. Ich sah
nichts darin, als das Bestreben des Malers, niederzuschreiben, was sein Auge gesehen.
Lange Zeit verweilte ich bei einem der größeren Gemälde; es war eine Landschaft und
flott mit breiten Pinselstrichen auf die Leinwand gesetzt. Aus den bewundernden Reden
der Umstehenden ersah ich, daß es für eine tüchtige Leistung gelte. Ich beschaute es
näher und genauer, aber immer konnte ich nichts anderes daran finden, als eben die
breite Technik; daraus schloß ich, daß für jene Leute die Schönheit der Malerei in der
Tatsache bestand, einen breiten Pinsel zu führen und ihn geschickt zu gebrauchen.
Während ich derart an meinem Fenster träumte, fiel die Dämmerung ein, und in
den Straßen flammten schon einzelne Lichter auf. Da, ein wohlbekanntes Klopfen an
der Tür; mein Freund, der Bildhauer, kommt mich zum allabendlichen Plaudergang
in den Straßen abzuholen. Unten angelangt sage ich: ,Du weißt, ich war in der Aus-
stellung, aber nichts hat mir gefallen/ Mitleidig lächelnd antwortet er: ,Du verstehst
*) Erschienen als Artikel, Burnley Bibb gezeichnet, im XI. Band.