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Abb. 32. Schlafender Hirtenknabe. (Zu Seite 58.)
mochte, fing er an, mit einer solchen Freiheit der Mittel zu behandeln, daß sein Bei-
spiel einfach aufreizend wirkte, auch hatte er selbst keine Ruhe bis er die Neuerungen
nicht allgemein cingeführt hatte. Dieser Bursche ohne Heim oder Herd, nur von der
Hand in den Mund lebend und aus jeder Not eine Tugend machend, zeigte in seinen
Schularbeiten dieselbe Lust am Ungewöhnlichen, dieselbe Anwendung von unvorhergesehenen
Mitteln, dasselbe Geschick, alle Schwierigkeiten und Hindernisse zu umgehen oder zu
überwinden, wie in seiner Art sich durchs Leben zu schlagen. Für ihn gab es keine
Geleise und seiner Natur waren die unbegangensten Wege die liebsten; selbst ohne die
allereinfachsten Vorsichtsmaßregeln ging er gerade ans sein Ziel los. So viel Eigenart
und Eigenwille aber mußte in der Schule Ärgernis erwecken. Diesen Trieben blindlings
folgend, legte er zuletzt einen gewissen Ehrgeiz darein, nie etwas zu machen wie irgend-
ein anderer, und trieb auch die Kameraden dazu an. Von diesem Moment an existierte
kein folgsamer Schüler mehr; die Lehrer bemerkten, daß der allgemeine Eifer für schöne
Ausführung von Haar- und Schaltenstrichen oder für fcingekörnte Hintcrgrundpartien
verschwunden war. Auch brauchten sie sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen, um zu
erfahren woher der Gärstoff in den Köpfen, der neue Übermut bei der Arbeit käme.
Mit scheelen Blicken sahen die meisten dem Treiben Segantinis zu, nur einen einzigen
Freund erhielt er sich unter diesem — wie übrigens die meisten — in alten Dogmen
verknöcherten Lehrkollegium. Es war Professor Luigi Bisi, dessen Verständnis für
Segantinis Eigenart und Begabung letzterer auch die für den „Chor des heiligen
Antonius" verliehene Medaille verdankte. Selbst den bald darauf erfolgten Bruch
mit der Akademie hat Professor Bisi, der damals Direktor der Anstalt und Lehrer für
Perspektive war, ihm niemals nachgetragen und ist ihm ein väterlicher Freund geblieben.
Einst wandte er seinen ganzen Einfluß an, uni durch diskretes Eingreifen und liebevolle
Fürsorge ihn aus den höchst bedrohlichen Verwicklungen mit der Polizei zu befreien, in
Abb. 32. Schlafender Hirtenknabe. (Zu Seite 58.)
mochte, fing er an, mit einer solchen Freiheit der Mittel zu behandeln, daß sein Bei-
spiel einfach aufreizend wirkte, auch hatte er selbst keine Ruhe bis er die Neuerungen
nicht allgemein cingeführt hatte. Dieser Bursche ohne Heim oder Herd, nur von der
Hand in den Mund lebend und aus jeder Not eine Tugend machend, zeigte in seinen
Schularbeiten dieselbe Lust am Ungewöhnlichen, dieselbe Anwendung von unvorhergesehenen
Mitteln, dasselbe Geschick, alle Schwierigkeiten und Hindernisse zu umgehen oder zu
überwinden, wie in seiner Art sich durchs Leben zu schlagen. Für ihn gab es keine
Geleise und seiner Natur waren die unbegangensten Wege die liebsten; selbst ohne die
allereinfachsten Vorsichtsmaßregeln ging er gerade ans sein Ziel los. So viel Eigenart
und Eigenwille aber mußte in der Schule Ärgernis erwecken. Diesen Trieben blindlings
folgend, legte er zuletzt einen gewissen Ehrgeiz darein, nie etwas zu machen wie irgend-
ein anderer, und trieb auch die Kameraden dazu an. Von diesem Moment an existierte
kein folgsamer Schüler mehr; die Lehrer bemerkten, daß der allgemeine Eifer für schöne
Ausführung von Haar- und Schaltenstrichen oder für fcingekörnte Hintcrgrundpartien
verschwunden war. Auch brauchten sie sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen, um zu
erfahren woher der Gärstoff in den Köpfen, der neue Übermut bei der Arbeit käme.
Mit scheelen Blicken sahen die meisten dem Treiben Segantinis zu, nur einen einzigen
Freund erhielt er sich unter diesem — wie übrigens die meisten — in alten Dogmen
verknöcherten Lehrkollegium. Es war Professor Luigi Bisi, dessen Verständnis für
Segantinis Eigenart und Begabung letzterer auch die für den „Chor des heiligen
Antonius" verliehene Medaille verdankte. Selbst den bald darauf erfolgten Bruch
mit der Akademie hat Professor Bisi, der damals Direktor der Anstalt und Lehrer für
Perspektive war, ihm niemals nachgetragen und ist ihm ein väterlicher Freund geblieben.
Einst wandte er seinen ganzen Einfluß an, uni durch diskretes Eingreifen und liebevolle
Fürsorge ihn aus den höchst bedrohlichen Verwicklungen mit der Polizei zu befreien, in