— 29
Mittelpunkte der künstlerischen Thätigkeit des frate in San Marco
steht: der gekreuzigte Heiland.* 1 Hier ist zunächst her-
vorzuheben, dass eben der Gekreuzigte, nicht der dramatische Vorgang
der Kreuzigung von dem Meister geschildert wird. Als zweiter ent-
scheidender und für seine geistige Richtung charakteristischer Zug ist
hervorzuheben, dass er den Kruzifixus nicht wie Giotto und seine
Schüler, und wie später Masaccio und seine Nachfolger, bereits tot
und mit den Zeichen der erlittenen Qualen, eines heftigen Todes-
kampfes auf dem Antlitz darstellt, sondern — was auch Supino2 schon
erwähnt — lebend, voll feierlicher Ruhe, im vollen Bewusstsein des
Opfers, das er bringt. Göttliche Majestät, überirdische Milde, selbst
Opferfreudigkeit, sind die hervorstechendsten Züge, die auf den 20
Kreuzigungsdarstellungen zu San Marco den Beschauer immer wieder
ergreifen. Was Körperform und Haltung anbetrifft, hält fra Giovanni
an den durch seine Vorgänger geschaffenen Neuerungen in der Dar-
stellung3 fest, so an der wenig ausgebogenen Haltung des Körpers,
besonders des rechten Beines, an dem einen Nagel, der durch beide
Füsse geht, an dem Brettchen auf dem sie ruhen, und an der T Form
des Kreuzes, das nur von der Inschrifttafel überragt ist. Nur die
Neigung des Kopfes ist bei dem Kruzifixus unseres Malers leichter und
zarter ausdrucksvoll als auf den Bildern irgend eines seiner Vorgänger,
die Haltung des Körpers, ohne darum steifer, unnatürlicher zu werden,
weniger in sich gesunken und edler. Fortschritte auch weist Christi
Körperbau bei fra Giovanni in anatomischer Beziehung auf. Ich be-
halte mir vor, bei Besprechung des herrlichsten Christuskörpers,
den unser Meister geschaffen hat auf der Kreuzabnahme (Galleria An-
ticae Moderna) hierauf zurückzukommen.
Dem durch die Heiligen Franz von Assisi und Dominikus und
ihre Orden neu erwachten, «menschlichen Mitgefühl für den in unaus-
sprechlichen Leiden gestorbenen Menschensohn»4 entspringt die Dar-
stellung der Heiligen am Fusse des Kreuzes als Zeugen des Leidens.
Neben den durch die biblische Erzählung begründeten Gestalten der
mater dolorosa und des Lieblingsjüngers Johannes sehen wir dann
kleineren Fresko daselbst, das den Kruzifixus zwischen den beiden Schächern zeigt.
Zu dem reuigen, der den Heiligenschein trägt, wendet sich Christus mit den Worten:
«Hodie eris mecum in Paradiso.»
1 Unbedeutende Kreuzigungsbilder sind noch in Fiesoie (Fresko), in der Aka-
demie zu Florenz und im Louvre zu finden.
2 «Beato Angelico», p. i5.
3 cf. Thode, »Franz von Assisi», p. 443 ff.
4 cf. Thode, «Franz von Assisi», p. 445.
Mittelpunkte der künstlerischen Thätigkeit des frate in San Marco
steht: der gekreuzigte Heiland.* 1 Hier ist zunächst her-
vorzuheben, dass eben der Gekreuzigte, nicht der dramatische Vorgang
der Kreuzigung von dem Meister geschildert wird. Als zweiter ent-
scheidender und für seine geistige Richtung charakteristischer Zug ist
hervorzuheben, dass er den Kruzifixus nicht wie Giotto und seine
Schüler, und wie später Masaccio und seine Nachfolger, bereits tot
und mit den Zeichen der erlittenen Qualen, eines heftigen Todes-
kampfes auf dem Antlitz darstellt, sondern — was auch Supino2 schon
erwähnt — lebend, voll feierlicher Ruhe, im vollen Bewusstsein des
Opfers, das er bringt. Göttliche Majestät, überirdische Milde, selbst
Opferfreudigkeit, sind die hervorstechendsten Züge, die auf den 20
Kreuzigungsdarstellungen zu San Marco den Beschauer immer wieder
ergreifen. Was Körperform und Haltung anbetrifft, hält fra Giovanni
an den durch seine Vorgänger geschaffenen Neuerungen in der Dar-
stellung3 fest, so an der wenig ausgebogenen Haltung des Körpers,
besonders des rechten Beines, an dem einen Nagel, der durch beide
Füsse geht, an dem Brettchen auf dem sie ruhen, und an der T Form
des Kreuzes, das nur von der Inschrifttafel überragt ist. Nur die
Neigung des Kopfes ist bei dem Kruzifixus unseres Malers leichter und
zarter ausdrucksvoll als auf den Bildern irgend eines seiner Vorgänger,
die Haltung des Körpers, ohne darum steifer, unnatürlicher zu werden,
weniger in sich gesunken und edler. Fortschritte auch weist Christi
Körperbau bei fra Giovanni in anatomischer Beziehung auf. Ich be-
halte mir vor, bei Besprechung des herrlichsten Christuskörpers,
den unser Meister geschaffen hat auf der Kreuzabnahme (Galleria An-
ticae Moderna) hierauf zurückzukommen.
Dem durch die Heiligen Franz von Assisi und Dominikus und
ihre Orden neu erwachten, «menschlichen Mitgefühl für den in unaus-
sprechlichen Leiden gestorbenen Menschensohn»4 entspringt die Dar-
stellung der Heiligen am Fusse des Kreuzes als Zeugen des Leidens.
Neben den durch die biblische Erzählung begründeten Gestalten der
mater dolorosa und des Lieblingsjüngers Johannes sehen wir dann
kleineren Fresko daselbst, das den Kruzifixus zwischen den beiden Schächern zeigt.
Zu dem reuigen, der den Heiligenschein trägt, wendet sich Christus mit den Worten:
«Hodie eris mecum in Paradiso.»
1 Unbedeutende Kreuzigungsbilder sind noch in Fiesoie (Fresko), in der Aka-
demie zu Florenz und im Louvre zu finden.
2 «Beato Angelico», p. i5.
3 cf. Thode, »Franz von Assisi», p. 443 ff.
4 cf. Thode, «Franz von Assisi», p. 445.