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g- DER SPÄTE STIL DES ÄLTEREN CRANACH

Die flächenstarke, kräftige Kunst des späten Cranach ist der breiten Öffentlichkeit zuletzt
durch die Entdeckungen eines Malers bewußt geworden: durch Picassos Variationen von
Cranach-Postkarten. [607] Die Bildfläche ist in mehr oder weniger ausgeprägter Weise durch
meist kurvige Begrenzungen in klare Flächenfiguren aufgeteilt. Die Neigung dazu ist auch in
früheren Werken des Künstlers vorhanden. Ein darauf gegründetes System ist erst nach 1520
erkennbar. Schon das von Unruhe durchpulste Frühwerk kennt unheimlich stille Flächen, wie

Tafel 28 bei dem Kleid der Anna Cuspinian. Die Fahne beim Holzschnitt des heiligen Georg von 1506
ist nur ein Stück halbbelebte Fläche. Unmotiviert ins Bild herabreichende Gehänge wie bei

Tafel 81 den Holzschnitten der Heiligen Sippe und der Madonna mit dem anbetenden Kurfürsten
betonen die Bildfläche, ebenso wie die häufig dem Rahmen parallel laufenden Begrenzungen
von Mauern und Gewändern und die zaghaft am Rand emporsprießenden Baumstämme. Un-
trennbar vom Formalen ist in vielen Fällen das Überraschungsmoment: das Unmotivierte ist
eingesetzt als ein Mittel zur Steigerung der Illusion. Diese Aufgabe ist sehr deutlich bei den
phantastischen Rahmen des Stephanus-Holzschnittes von 1502 und bei der Apostelserie.
Noch eine andere gegenständliche Bedeutung haben manche der flächenfüllenden Motive,
indem sie monströse Bildungen und Ungeheuer hervorbringen. Eine magische Wirkung
haben schon die seltsame Umrandung des wappenhaltenden Putto im Kupferstich von 1509
[608] und der dunkle Wolkensaum über dem heiligen Bartholomäus des Stiches. Auf dem
Holzschnitt der Palästina-Landkarte vor 1525 erhebt sich die Wasserfläche zu einem böse
drohenden Strudel neben den Schiffen. Ganz eindeutig ist die durch Engelsköpfe gemilderte

Seite 8} Bedrohung der heiligen Barbara und Katharina im Holzschnittpaar von 1519. Es entsteht ein
Bild, das Luther 1521 bei der Auslegung des 68. Psalmes ähnlich mit den unvergeßlichen Wor-
ten geprägt hat: <Der Rauch geht über sich, macht sich eigenwillig in der Luft, tut als wollte
er die Sonne verblenden und den Himmel stürmen. Was ist's aber? Kommt ein kleines Wind-
lein, so verwebt sich und verschwindet der breitprächtige Rauch, daß niemand weiß wo er
bleibt.> [609] Dürers mißbilligendes Wort: <Die Ungestalt will sich von ihr selbst stetig in
unser Werk flechten) [610], kommt in den Sinn. Fratzenhafte Wolkengebilde treiben ähnlich
auch in den Holzschnitten der Apokalypse von 1522 [611] ihr Unwesen. In den Randzeich-
nungen zum Gebetbuch Kaiser Maximilians, wo frei erspielte Gebilde dieser Art am Platze
gewesen wären, ist Cranach zurückhaltend; es gibt dort immerhin die wunderbar leicht ge-
formte Fläche der Engelswolke auf der Vorderseite von Blatt 61.

Viele stark wirksame Flächen im Bild ergeben sich aus unterbrochenen Form Verläufen. Es
ist geradezu ein Grundsatz Cranachs, wichtige Gelenkpunkte der Konstruktionen zu ver-
decken, Abmeßbares in Unwägbarkeit zu hüllen, Zusammenhängendes ruckartig zu zer-
trennen. Perspektivische Versuche führen oft zu Absurditäten, auch bei den Werken des
jüngeren Cranach. Cranach ist bei so viel Orientierung an Dürer nie für dessen große rationale
Ordnung gewonnen worden. Die Vielfalt der Einzelheiten hatte immer eine starke Macht
über ihn; die Versuchung, etwas davon zu opfern, setzte sich nie durch. Das muß zusammen-
hängen mit einem sehr starken, urwüchsigen Verhältnis zu der Vielfalt der Erscheinungen,
die auf ihn einwirkte. Die Dinge beherrschten ihn mehr als die Zusammenhänge zwischen
ihnen und die maßvolle Übersicht. Aus der Abneigung gegen den rationalen Zusammenhang
der Erscheinungen entstand jene merkwürdige Naivität, der jede Zusammenstellung annehm-
bar war, bis zu offener Ungereimtheit. Solange die Bilderwelt aus den elementaren Aus-

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