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VI. Einige Bemerkungen zur Kunsttheorie des Barock.
er und spricht ganz aus der Handweise der Venezianer, namentlich
seines Lieblingshelden Tintoretto heraus, wenn er die »Wirkungsform«
der breiten Pinselstriche (colpi, die Spanier sprechen von golpes) so
stark unterstreicht, die in der Nähe gesehen ein wirres Durcheinander
darstellen, während sie in richtiger Entfernung gesehen sich vollrund
zur echten Kunstform zusammenschließen. Auch Bernini rät, zur Er-
zielung des »großen Stils« den Zeichenblock so weit als möglich vom
Auge zu halten; die mikroskopische Sauberkeit der Quattrocentisten
im Süden und Norden ist ein längst überwundener Standpunkt, wie
auch die ganze Theorie des Seicento sich in scharfem Gegensatz zu
jener Zeit befindet, die in der Kunst eine Tochter der Natur und
Enkelin Gottes gesehen hatte. Denn diese Absage an die Natur ist
ein Rückfall in die Sinnesweise, die ein Lionardo noch so heftig
bekämpft hatte, fast ein Rücklauf zu jenem »gotischen« Formwillen,
der, schon im Manierismus hervortretend, das Barock oft auf wunder-
lichen Wegen begleitet und denen man gerade in unserer jüngsten
Zeit des »Expressionismus« so eifrig nachspürt. Der schon in den
Traktaten des ausgehenden Cinquecento gerne gebrauchte Titel der
Idea zeigt, wohin das Streben geht: die Verbesserung der Natur
durch die Kunst, die Idee als das Höherstehende, das Prius, das
Regel- und Maßgebende. Es ist höchst bezeichnend, wie sich Bellori
ausdrücklich auf das berühmt gewordene Wort Raffaels von der certa
idea bezieht und es mit großem Aufwande philosophischer Gelehr-
samkeit aus des Proclus Kommentar zum Timaeus erläutert. In solchem
Umkreise bekommt die bei Bellori überlieferte Äußerung des Guido
Reni ein ganz anderes Gesicht als die im Grunde doch recht harm-
lose Malerfloskel des Raffael: er wäre, um die wahre Form seines
St. Michael zu finden, gern in den Himmel eingedrungen; da das
nicht möglich, müsse er sich mit der idea in seinem Geiste begnügen.
Da ist es freilich auch erklärlich, daß Bellori auf jenes Wort des
Lysipp — das übrigens schon Tasso in seinen Dialogen hervorgeholt
hatte — so großen Wert legt.
Besonders ein bestimmtes Teilgebiet der Malerei, die Kunst des
Bildnisses, mußte hier immer mehr in jene zweifelhafte Zwitter-
stellung geraten, die es bis in die Ästhetik des 19. Jahrhunderts (Vischer)
hinein niemals recht losgeworden ist und die schließlich auch zu der
zunächst sehr barock — ich vermeide den Doppelsinn absichtlich
nicht — anmutenden modernsten These geführt hat, die »Ähnlichkeit«
sei im Bilde überhaupt nicht das künstlerisch Maßgebende, ja der
Kopf überhaupt als over-expression zu missen (Berenson). Das Fehlen
der »Idee«, die bloße »Nachahmung« der Natur scheint es ja aus dem
Bezirk der »hohen« Kunst zu verweisen. Schon bei Giulio Mancini
wird eine sehr merkwürdige Dialektik versucht; in seiner Stufenleiter
VI. Einige Bemerkungen zur Kunsttheorie des Barock.
er und spricht ganz aus der Handweise der Venezianer, namentlich
seines Lieblingshelden Tintoretto heraus, wenn er die »Wirkungsform«
der breiten Pinselstriche (colpi, die Spanier sprechen von golpes) so
stark unterstreicht, die in der Nähe gesehen ein wirres Durcheinander
darstellen, während sie in richtiger Entfernung gesehen sich vollrund
zur echten Kunstform zusammenschließen. Auch Bernini rät, zur Er-
zielung des »großen Stils« den Zeichenblock so weit als möglich vom
Auge zu halten; die mikroskopische Sauberkeit der Quattrocentisten
im Süden und Norden ist ein längst überwundener Standpunkt, wie
auch die ganze Theorie des Seicento sich in scharfem Gegensatz zu
jener Zeit befindet, die in der Kunst eine Tochter der Natur und
Enkelin Gottes gesehen hatte. Denn diese Absage an die Natur ist
ein Rückfall in die Sinnesweise, die ein Lionardo noch so heftig
bekämpft hatte, fast ein Rücklauf zu jenem »gotischen« Formwillen,
der, schon im Manierismus hervortretend, das Barock oft auf wunder-
lichen Wegen begleitet und denen man gerade in unserer jüngsten
Zeit des »Expressionismus« so eifrig nachspürt. Der schon in den
Traktaten des ausgehenden Cinquecento gerne gebrauchte Titel der
Idea zeigt, wohin das Streben geht: die Verbesserung der Natur
durch die Kunst, die Idee als das Höherstehende, das Prius, das
Regel- und Maßgebende. Es ist höchst bezeichnend, wie sich Bellori
ausdrücklich auf das berühmt gewordene Wort Raffaels von der certa
idea bezieht und es mit großem Aufwande philosophischer Gelehr-
samkeit aus des Proclus Kommentar zum Timaeus erläutert. In solchem
Umkreise bekommt die bei Bellori überlieferte Äußerung des Guido
Reni ein ganz anderes Gesicht als die im Grunde doch recht harm-
lose Malerfloskel des Raffael: er wäre, um die wahre Form seines
St. Michael zu finden, gern in den Himmel eingedrungen; da das
nicht möglich, müsse er sich mit der idea in seinem Geiste begnügen.
Da ist es freilich auch erklärlich, daß Bellori auf jenes Wort des
Lysipp — das übrigens schon Tasso in seinen Dialogen hervorgeholt
hatte — so großen Wert legt.
Besonders ein bestimmtes Teilgebiet der Malerei, die Kunst des
Bildnisses, mußte hier immer mehr in jene zweifelhafte Zwitter-
stellung geraten, die es bis in die Ästhetik des 19. Jahrhunderts (Vischer)
hinein niemals recht losgeworden ist und die schließlich auch zu der
zunächst sehr barock — ich vermeide den Doppelsinn absichtlich
nicht — anmutenden modernsten These geführt hat, die »Ähnlichkeit«
sei im Bilde überhaupt nicht das künstlerisch Maßgebende, ja der
Kopf überhaupt als over-expression zu missen (Berenson). Das Fehlen
der »Idee«, die bloße »Nachahmung« der Natur scheint es ja aus dem
Bezirk der »hohen« Kunst zu verweisen. Schon bei Giulio Mancini
wird eine sehr merkwürdige Dialektik versucht; in seiner Stufenleiter