8 Rom im Blick - aber welches Rom?
Man sagt, Kopenhagen, Dresden, Neapel und Konstantinopel seien die
vier schönsten Städte Europas; ich habe keine Veranlassung, dieser Be-
hauptung entgegenzutreten. Aber in Beziehung auf Konstantinopel
muß ich doch erwähnen, daß man diese Stadt nur dann schön zu finden
vermag, wenn man sie nur von außen, vom goldenen Horn aus, betrach-
tet; sobald man dagegen ihr Inneres betritt, wird die Enttäuschung nicht
ausbleiben. Ich erinnere mich dabei jenes englischen Lords, von wel-
chem man erzählt, daß er zwar mit seiner Dampfjacht Konstantinopel
besucht, aber dabei nicht sein Fahrzeug verlassen habe. Er fuhr von Ro-
dosto am Nordufer des Marmarameeres hin bis Stambul, lenkte in das
goldene Horn ein, in welchem er bis hinauf nach Eyub und Sudludje
dampfte, kehrte zurück und ging im Bosporus bis an dessen Mündung
in das schwarze Meer und fuhr dann wieder zurück, in dem Bewußtsein,
sich den Totaleindruck Konstantinopels nicht durch Eingehen auf die
garstigen Einzelheiten verdorben zu haben.1
Konstantinopel ist also - so Karl May um die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert - ein Sehnsuchtsort, den man aber nur aus der Distanz
wirklich schön findet. Juvenal hätte dem 1800 Jahre zuvor für Rom unbe-
dingt beigepflichtet: In dieser Stadt kann man nicht (mehr) leben. Die ur-
banen Errungenschaften der flavischen und traianischen Zeit können da-
ran nichts ändern, ja sie sind mit keiner Silbe erwähnt und damit als für
die Menschen, mit denen sich die Satire literarisch befasst, als irrelevant
bezeichnet. Dass Rom aus der Distanz am schönsten ist, dass hat auch
Ovid erfahren, der niemals so uneingeschränkt positiv und loyal von der
urbs schreibt wie von Tomi aus, nicht mehr Rom aus den Intentionen des
Augustus in die elegisch-epischen Bezugsfelder überführen möchte.
Wie die Perspektive aus der räumlichen Entfernung bietet auch die der
zeitlichen Entfernung die Möglichkeit zu einer solch distanzierten und aus
dieser Distanz verklärenden Sicht auf Rom, die unausgesprochen die Ge-
genwart abwertet. Das war schon in Vergils Aeneis festzustellen, scheint
aber auch für einen Zeitgenossen Juvenals eine willkommene Option ge-
1 Karl May, Von Bagdad nach Stambul, Kap. 9.
Man sagt, Kopenhagen, Dresden, Neapel und Konstantinopel seien die
vier schönsten Städte Europas; ich habe keine Veranlassung, dieser Be-
hauptung entgegenzutreten. Aber in Beziehung auf Konstantinopel
muß ich doch erwähnen, daß man diese Stadt nur dann schön zu finden
vermag, wenn man sie nur von außen, vom goldenen Horn aus, betrach-
tet; sobald man dagegen ihr Inneres betritt, wird die Enttäuschung nicht
ausbleiben. Ich erinnere mich dabei jenes englischen Lords, von wel-
chem man erzählt, daß er zwar mit seiner Dampfjacht Konstantinopel
besucht, aber dabei nicht sein Fahrzeug verlassen habe. Er fuhr von Ro-
dosto am Nordufer des Marmarameeres hin bis Stambul, lenkte in das
goldene Horn ein, in welchem er bis hinauf nach Eyub und Sudludje
dampfte, kehrte zurück und ging im Bosporus bis an dessen Mündung
in das schwarze Meer und fuhr dann wieder zurück, in dem Bewußtsein,
sich den Totaleindruck Konstantinopels nicht durch Eingehen auf die
garstigen Einzelheiten verdorben zu haben.1
Konstantinopel ist also - so Karl May um die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert - ein Sehnsuchtsort, den man aber nur aus der Distanz
wirklich schön findet. Juvenal hätte dem 1800 Jahre zuvor für Rom unbe-
dingt beigepflichtet: In dieser Stadt kann man nicht (mehr) leben. Die ur-
banen Errungenschaften der flavischen und traianischen Zeit können da-
ran nichts ändern, ja sie sind mit keiner Silbe erwähnt und damit als für
die Menschen, mit denen sich die Satire literarisch befasst, als irrelevant
bezeichnet. Dass Rom aus der Distanz am schönsten ist, dass hat auch
Ovid erfahren, der niemals so uneingeschränkt positiv und loyal von der
urbs schreibt wie von Tomi aus, nicht mehr Rom aus den Intentionen des
Augustus in die elegisch-epischen Bezugsfelder überführen möchte.
Wie die Perspektive aus der räumlichen Entfernung bietet auch die der
zeitlichen Entfernung die Möglichkeit zu einer solch distanzierten und aus
dieser Distanz verklärenden Sicht auf Rom, die unausgesprochen die Ge-
genwart abwertet. Das war schon in Vergils Aeneis festzustellen, scheint
aber auch für einen Zeitgenossen Juvenals eine willkommene Option ge-
1 Karl May, Von Bagdad nach Stambul, Kap. 9.



