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Kunsthistorische Bilderbogen: für den Gebrauch bei akademischen und öffentlichen Vorlesungen, sowie beim Unterricht in der Geschichte und Geschmackslehre an Gymnasien, Real- und höheren Töchterschulen zusammengestellt: Textbuch zu Seemann's kunsthistorischen Bilderbogen — Leipzig, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.1298#0146
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2A2 Die italienifche Baukunft im fpäteren Mittelalter.

noch muß ein großer Auffchwung der italienifchen Architektur im
Zeitalter der Gothik zugeftanden und der Einfluß der letzteren auf
die Phantafie der italienifchen Baukünftler anerkannt werden. An
die wunderbare Kraft des Spitzbogens glaubten noch in der Renais-
sancezeit gar viele Leute; die reiche decorative Ausftattung mit
kunftvoller Steinmetzarbeit entfprach in hohem Maße dem Sinne
der Zeitgenoflen. Es traf lieh glücklich, daß, als die Kunde von
dem neuen Stile fich in Italien ausbreitete, die Städte in mächtigem
Aufblühen begriffen waren und ihren Stolz in großartige Bauunter-
nehmungen fetzten. Die alten ftädtifchen Kirchen erfchienen alle zu
klein und mußten erneuert werden, Communalpaläfte, Hallen (liegen
rafch in die Höhe, auch in einzelnen emporgekommenen ftädtifchen
Gefchlechtern regte fich die Bauluft. Dazu kam, daß im dreizehnten
Jahrhundert die volksthümlichen Mönchsorden des h. Franciscus
und Dominicus in allen Städten Niederlaffungen gründeten, und,
von der begeifterten Zuftimmung der Bürger gehoben, große Kirchen
errichteten. Im Dienfte diefer Orden trat die italienifche Gothik
zuerft auf. Die Mutterkirche des Franciscanerordens in Affifi, bald
nach 1228 begonnen und 1253 geweiht und nach den Entwürfen
eines Deutfchen, Namens Jacob entworfen, fleht an der Spitze der
gothifchen Bauten Italiens. Vom Fuße der Alpen wanderte der
gothifche Stil im Gefolge des Franciscaner- und Dominicanerordens
bis nach Sicilien herunter. Die berühmteften Ordenskirchen:
ai Frari und S. Giovanni e Paolo in Venedig, San Francesco in
Bologna, S. Croce (Franciscaner) und S. Maria Noveila (Dominicaner)
in Florenz, S. Maria fopra Minerva in Rom find ebenfo viele Bei-
spiele italienifcher Gothik.

Der Umftand, daß zunächft Klofterkirchen errichtet worden,
übte gewiß Einfluß auf die Entwicklung des Stiles. Die Predigt
war durch die beiden neuen Orden mehr als früher in den Vorder-
grund des Cultus geftellt worden. Die Rückficht auf die Predigt
beftimmte die Anlage. Es galt zunächft weite Räume zu fchaflen.
Das Mittelfchiff wurde nicht mehr fo ausfchließlich in Maßen und
Schmuck ausgezeichnet, fogar die Wölbung wurde demfelben zu-
weilen entzogen, die Holzdecke wieder zu Ehren gebracht. Eine
reiche Entfaltung des Chores erfchien überflüffig. Dagegen empfahl
fich, um der dauernden Gunft der Familien ficher zu fein, die An-
lage zahlreicher Kapellen als Privatftiftungen. Sie wurden meiftens
an der Oftfeite des breiten Querfchiffes errichtet. Stattliche Thurm-
bauten kannten felbft die nordifchen Klofterkirchen in der gothifchen
Periode nicht. Sie fielen auch in Italien aus, und da das Auge an
den Klofterkichen zuerft die gothifchen Formen fchaute, fo ver-
mißte es auch bei den fpäteren Kathedralbauten die mit der Faffade
untrennbar verbundenen Thürme nicht, zumal da die Tradition es an
 
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