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Kunsthistorische Bilderbogen: für den Gebrauch bei akademischen und öffentlichen Vorlesungen, sowie beim Unterricht in der Geschichte und Geschmackslehre an Gymnasien, Real- und höheren Töchterschulen zusammengestellt: Textbuch zu Seemann's kunsthistorischen Bilderbogen — Leipzig, 1879

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https://doi.org/10.11588/diglit.1298#0139
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Norddeutfcher Backfteinbau. l35

fpringenden Querfchiff durchfchnitten, an den Chor, welcher von
einem niedrigeren Umgange eingefchloflen ift, flößt die Marienkapelle
an. Bei aller Einfachheit und Selbftändigkeit im . Einzelnen bleibt,
der Einfluß des franzöfifchen Kathedralftiles fichtbar. Im Allgemeinen
gehen die norddeutfchen Baumeifter, welche die Hallenform vor-
ziehen und den Backftein als Material benutzen, ihren eigenen Weg
und zeigen fich fremden Einwirkungen wenig unterworfen, fo daß
die Eigenart des deutfchen Volksthumes hier einen befonders kräf-
tigen, frifchen Ausdruck gewinnt. Die Natur des Materials prägt
fich auch in den Formen aus. Die Pfeiler, meift achteckig gebildet,
erfcheinen nur fchwach profilirt (No. 79, 4, No. 80, 8) und felbft
an den reicheren Portalprofilen (No. 79, 3) wird man den Schwung
und die Freiheit der Steinmetzarbeit vergebens fuchen. Auch das Stre-
benfyftem tritt mehr zurück, ebenfo der F'ialen- und Maßwerkfchmuck.
Der Charakter des Mafienhaften herrfcht vor, im Innern und an den
äußeren Mauern. Doch fehlt es nicht an wirkungsvollen Elementen
und decorativen Gliedern. Die Wölbungen werden zu bedeutender
Höhe emporgerührt, leicht und frei gebildet; außer dem von dem ro-
manifchen Stile herübergenommenen Bogenfriefe (No. 79, 8) dienen
namentlich die Formfteine und die farbigen glafirten Ziegel zu or- .
namentalen Zwecken. Die Formfteine geftatten das durchbrochene
-Maßwerk nachzubilden, fie überziehen wie ein leichtes Gitter die
Wandflächen; durch die gebrannten und glafirten, farbigen Ziegel, die
in wechfelnden Schichten geordnet, zu verfchiedenen Muftern zu-
fammengefetzt werden, kommt Leben und Gliederung in die fonft
todten Maffen. Außer den Portalwänden erfreuen fich namentlich
die hohen Giebel des reichften Schmuckes (No. 80, 5). Als Bei-
spiel norddeutfchen Backfteinbaues mag zunächft die Marienkirche zu
Lübeck (No. 77,. 6) erwähnt werden. .Wie die niedrigen Seiten-
fchiffe, der Chorumgang und die Chorkapellen zeigen, hält fie noch
wi Grundriß an dem zuerft in Frankreich durchgeführten Kathedral-
fyftem feft. Die Behandlung der Dienfte, der Streben und ins-
besondere der Thürme offenbart aber fchon die klare, folgerichtige
Einfachheit, welche die Backfteinbauten des deutfchen Nordens aus-
zeichnet. Die Marienkirche wurde nicht bloß der Stolz der Stadt, fon-
dern auch das Mufter, nach welchem fich die Baumeifter der deutfchen
Küftenlande bildeten. Und felbft wo fie nicht als Vorbild diente, hat
die zwingende Natur des Materiales, dann in weiterer Linie die Ge-
meinfchaft der Anfchauungen, Sitten und Intereffen einen Zug der
Verwandtfchaft in die Aeußerungen der Kunft gebracht. Wenn
man fich den alten Hanfeftädten nähert, begrüßen die gewaltigen
Kirchen mit ihren hochragenden Thürmen das Auge wie die riefigen
Orlogfchiffe, auf welchen die Hanfafahrer fich die nordifche Welt
tributpflichtig machten und ihren Städten Reichthum zuführten^
 
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