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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — Frankfurt a.M., 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.67642#0264
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Viertes Hauptstück.

Darstellungen auf unrichtiger Fährte. — Seit der unheilvollen Erobe-
rung Algiers durch die Franzosen ist es jetzt Mode geworden, die
alttestamentlichen Sujets im Beduinenkostüme zu behandeln, aus
Abraham einen Abdhel Kader mit Burnus und wallendem Kopf-
shawl zu machen, die Rebekka wie eine kabylische Wasser-
trägerin zu kostümiren u. s. w. Nun aber sind alle die weitfäl-
tigen, freiflatternden Gewänder die jetzt im Oriente herrschen,
z. B. die malerischen Kostüms der kabylischen Weiber (Weiss
Seite 152, Fig. 102), sowie die Abas und Burnus der Beduinen,
ja selbst die togaähnlichen Ueberwürfe der Ashanter entschieden
spätere Einführung und ein Nachklang der gräko-italischen Civili
sation, die erst nach Alexander und durch die Römer tiefdringen-
deren Eingang in Asien und Afrika gefunden hat. Diess bewei-
sen die Monumente, diess beweist vor Allem die Thatsache, dass
in Hellas selbst der freie Faltenwurf, das Gewand als ein Schmuck
der alle drei Schönheitsmomente, nämlich Proportion, Symmetrie
und Richtung, gleichmässig hebt und wirken lässt, erst nach den
Perserkriegen anfing sich zu entwickeln.1 Die dramatische Kunst
und das Theater brachte die Griechen erst zu bewusstvoller
Kunstanschauung auch auf diesem Gebiet; wir wissen aus dem
Athenäus, dass Aeschylus die Zierlichkeit und den Anstand der
Stola erfand, dem hierin zuerst die Priester und Fackelträger bei
Opfern folgten. Vorher barbarisirten die Griechen in ihren Klei-
dungen und kannten sie den freien Faltenwurf nicht, wie wir an
den archaischen Bildwerken und auf Vasengemälden wahrneh-
men und ausserdem aus den Nachrichten der Alten über den
Kleiderluxus der früheren Jahrhunderte, der dem asiatischen
nichts nachgab, Müssen. 2 An jenen Bildern von Vernet, Chopin und
andern vermissen wir nämlich nicht die kostümtreue Nachahmung
des barbarisch-symmetrischen und ringförmig umschliessenden
assyrischen Fran.senshawls wie vür ihn jetzt kennen, wir wollen
vielmehr bei historischen Bildern die Auffassung der Draperie
nach dem Prinzipe des freien Faltenwurfs und des Massengleich-
gewichts, welches die alten Asiaten nicht kannten, aber es widert
uns an, dieses Prinzip unfrei behandelt zu sehen, nach der Weise
eines Maskeradenkostümschneiders, mit portraittreuem Festhalten
1 Aristoph. Nub. 987.
2 Athenäus XII. 5. p. 512. — Vergl. Böttiger Vasengem. Hft. 2. S. 56. —
Archäol. d. Malerei S. 210.
 
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