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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 2): Keramik, Tektonik, Stereotomie, Metallotechnik für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München, 1863

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https://doi.org/10.11588/diglit.1300#0412
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Stereotonlie (Steinkonstruktion). Technisch-Historisches.

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So gibt das ferne Aegypten über die allgemeine Physis der Stein-
zimmerei zuverlässige, sogar durch gleichzeitige schriftliche Urkun-
den beglaubigte Daten, während die unsere eigenen Kunsttraditionen
so nahe betreffende Monumentalgeschichte Griechenlands fast un-
mittelbar jenseits der Periode höchster Kunstblüthe in dichte Nebel
gehüllt ist. Fast von keinem Monumente Siciliens und Süditaliens,
von keinem Tempel oder sonstigen Baureste Kleinasiens besitzen
wir genaue Daten über Zeit und Umstände seiner Entstehung, oder
ist seine Identität mit irgend einem Werke, worüber sich bei den
alten Schriftstellern etwa eine nothdürftige Notiz vorfindet, erweis-
lich. Das Gleiche gilt von den Ueberresten griechischer Kunst in
Hellas selbst, mit Ausnahme einiger wenigen, deren Identität mit
den hochberühmten Werken des perikleischen Zeitalters äusser
allem Zweifel liegt. 1
Schon während der schönsten Blüthe Griechenlands herrschte
unter den Zeitgenossen über den Ursprung und die Geschichte
ihrer Bauweisen die allergrösste Verwirrung; an Stelle bestimmter
Daten hinterliessen sie uns meistentheils nur Fabeln, Künstler-
novellen und spekulative Deuteleien über Erfindung und Sinn
gewisser traditioneller Formen.
Wir haben leider viel zu grossen Werth darauf gelegt und
manches ernsthaft genommen, das doch bei den Alten selbst nur
als künstlerische Fiktion Geltung hatte. 2

1 Nicht einmal vom Theseustempel wissen wir ob er wirklich der kimo-
nische Bau ist wofür er insgemein gehalten wird, ob er daher den attisch-
dorischen Stil der Zeit unmittelbar nach den Perserkriegen mit Sicherheit zu
erkennen gibt.

2 So z. B. liebte Euripides, der von einer gewissen Kulissenreisserei
nicht freizusprechen ist, seine Bühnen-Dekorationen nach fast moderner Ge-
fiihlsweise antiquarisch zu behandeln und seinen tragischen Helden die Inter-
pretation dieser skenographischen Spitzfindigkeiten in den Mund zu legen.
Sind wir desshalb berechtigt, seine tlieatrale Fiktion eines dorischen
Frieses, mit Fensterlucken zwischen den Triglyphen statt der Metopen, der
Restitution eines vermeintlichen dorischen Urtempels zum Grunde zu legen,
vorausgesetzt selbst, dass sein Text darüber richtig verstanden worden sei?
Ausserdem war ihm diese Triglypheneinrichtung barbarisch - heroisch, nicht
hellenisch.
Damit leugnen wir keineswegs zugleich den Einfluss solcher dichterisch-
mystagogischen Phantasiebilder auf die Umbildung gewisser traditioneller
Formen, deren Ursprung und erster Sinn verloren gegangen waren und ihre
 
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