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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

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https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0018
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XII

Reorganisation nachzudenken anfängt; nämlich den Ruhm und den Vortheil des
unbestrittenen Vorrangs in den meisten Fächern der Kunstindustrie, und einer
bildenden Kunst, die keiner ausländischen nachsteht; während ihm in Beziehung
auf Chemie, Geniewesen und Mechanik, wenigstens von England und Amerika,
wo keine polytechnische Schulen sind, die Palme streitig gemacht wird.
Doch mögen Fächer wie die letztgenannten, bei denen sehr umfassendes
und gründliches exaktes Wissen gefordert wird, immerhin besondere Einrichtungen
nothwendig machen; es soll nur behauptet sein, dass diejenige Organisation des
Unterrichts, die für sie zweckmässig erscheinen mag, desshalb nicht massgebend
sein darf für alle Zweige und Fächer der Technik, und am wenigsten für die
Künste, mit Inbegriff der Baukunst und der Kunstindustrie.
Diess bestätigen die angeführten Gegensätze im französischen Unterrichts-
wesen, das bei der neuen Schultrennung in Deutschland und in anderen Ländern
nur einseitige Berücksichtigung und Nachahmung gefunden hat. Zwar hat man
in diesen Ländern neben den sogenannten polytechnischen Schulen noch die alten
Kunstakademien fortbestehen lassen, und neben diesen wieder viele sogenannte
Gewerbschulen, Sonntagsschulen, Kunstschulen u. s. w., zum Unterricht für Hand-
werker und Kunsttechniker, eingerichtet; aber weit eher zum Nachtheil als zum
Frommen der Kunst, die bei diesem systematischen Klassenunterrichte und der
Spaltung ihres Gebiets nicht gedeihen will, ohne Triebkraft, wie sie ist, von unten
herauf.
Um nicht genöthigt zu sein, sich selbst zu wiederholen, beruft sich der
Verfasser in Beziehung auf diese und andere damit eng verknüpfte Verhältnisse
auf seine Schrift: Wissenschaft, Industrie und Kunst, oder Vorschläge zur
Anregung nationalen Kunstgefühls. Braunschweig 1852.
Diese Verhältnisse würden weniger bedenklich scheinen, wenn nicht leider
eine gewisse höhere NothWendigkeit ins Spiel träte, in der sie, in Gemeinschaft
mit gleichzeitigen Wahrnehmungen auf andern Gebieten, wurzeln.
So z. B. greift die exakte Wissenschaft noch auf ganz andere viel wirksamere
Weise als die vorbezeichnete in die Verhältnisse der Gegenwart ein, als Leiterin
nämlich, oder vielmehr als Spiritus familiaris, des spekulirenden Jahrhunderts.
Sie bereichert das praktische Leben und erweitert den Wirkungskreis der vortheil-
bedachten Geschäftswelt mit ihren Entdeckungen und Erfindungen, die, statt wie
sonst Töchter der Noth zu sein, diese erst künstlich erzeugen helfen, um Absatz
und Anerkennung zu finden. Das kaum Eingeführte wird wieder als veraltet der
Praxis entzogen, ehe es technisch, geschweige küntlerisch, verwerthet werden
konnte, indem immer Neues, nicht immer Besseres, dafür an die Stelle tritt. 1

1 Wie lange währte es, ehe die Meister der grossen Zeit gegen Ende des Mittel-
alters als Ersatz für die älteren Prozesse, deren beschränkter Bereich ihnen nicht
genügte, das Leinöl als Bindemittel der Farben zu benützen lernten. Wie spät gelang
es, das Geheimniss der opaken Emailfarben für Fayencen, welches die Perser und
Saracenen wahrscheinlich aus antiker Ueberlieferung schon lange kannten, für den
 
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