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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

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https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0094
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Drittes Hauptstück.

beizen nicht auf die gebleichte Baumwolle oder auf die gebleichte
Seide applicirt, sondern die schöne Naturfarbe beider Stoffe als ver-
mittelnden und verbindenden Grundton aller Farben benützt und durch
dieses einfache Mittel sich es erleichtert, die lebhaftesten Farbenkontraste
harmonisch zu verbinden. Hierin besteht auch zum Theil das Geheim-
niss der tybetanischen Shawls mit ihrer, durch das mattglänzende Gelb-
weiss der Kaschmirwolle gebrochenen und verbundenen Farbenpracht.
(Vergleiche hierüber den später folgenden Artikel Färberei.)
Für das Verstehen der antiken Kunst und, wohl gemerkt, auch
für die wahre Praxis der Gegenwart, ist das genannte Prinzip, welches
die neueste europäische Industrie überall (z. B. zu ihrem grössten Nach-
theile auch in der Porzellanmanufaktur) verlassen hat, von grösster Be-
deutung. Genau genommen, befolgt sie dasselbe noch immer, aber ohne
es zu wissen und gleichsam auf Umwegen, da zum Beispiel der Oelmaler,
in dessen erhabenste Gebiete sie hineinzuwirken keinen Anstand mehr
nimmt, bei dem „Aufsetzen“ seiner Palette demselben Prinzipe huldigt,
sowie auch die der Aquarellmalerei eigenthümliche Zauberwirkung haupt-
sächlich nur aus ihm hervorgeht. Gut ist es indessen, zu wissen, was
man thut, weil dann das Gewollte oft auf einfacherem Wege besser er-
reicht werden kann. Die Industrie-Chemiker, die in der Leitung der
grossen Kunstmanufakturanstalten keine Kontrole übei’ sich dulden, setzen
all’ ihren Ehrgeiz darein, chemisch reine Farben zu produciren, und sind
die grössten Hindernisse einer Wiederkehr zu besseren naturgemässen
Grundsätzen des Kolorits. (Siehe weiter unten Artikel Färberei.)
§• 15-
Verschiedene Methoden der Farbenzusammenstellung.
Ich glaube, es sind nur zwei Methoden denkbar, wonach Ruhe und
Harmonie in den Farben (sowie in den räumlichen Verbindungen) erreicht
wird. Die erste beruht auf dem Prinzipe der gleichmässigen Ver-
keilung, die andere auf dem der Subordination oder der Autorität.
Nach dem ersteren wird durch Juxtaposition vieler gleich intensiv
wirkender Farben- oder Formenelemente eine Art von üppiger und
florirter Monotonie hervorgebracht, bei der das Auge nichts vermisst,
aber auch nichts Sonderliches findet.
Diese Ruhe als Resultat raschester Vibration, diese Einförmigkeit
des Reichthumes ist das eigentlich orientalische Prinzip der Ornamentation
 
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