Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0203
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Textile Kunst. Stoffe. Seide.

155

Man darf sich z. B. natürliches Rankenwerk mit Schattirung, Reflex
u. dergl. auf eine Weise temperirt und mit dem Grunde harmonisch
verschmolzen denken, dass die Fläche ungestört bleibe, wie diess ja selbst
bei jedem guten Bilde der Fall sein sollte.
§• 45.
Der Atlas.
Bei aller möglichen Pracht bleibt der Damast und selbst der Brokat
doch immer ein Stoff, der auch mit Wolle fast eben so prächtig gewoben
werden kann, wenn auch der Wechsel des Matten mit dem Glänzenden
hier eine etwas andere Wirkung als bei dem Seidengewebe herbeiführt.
— Dagegen ist das Fabrikat, von dem jetzt die Rede sein wird, so sehr
das Erbgebiet der Seide, dass nur der Gold- und Silberdraht, in ähnlicher
Weise verwoben, ihm Entsprechendes hervorbringen kann. Ich meine
den Atlas oder Satin.
Der Atlas ist ein opus plumarium continuum, eine Art von Grund-
stickerei, zu deren Herstellung man sich des Webstuhles bedient. Der
genannte Stoff hat gewissermassen gar keine Textur, sondern besteht aus
unausgesetzt nebeneinander gelegten und ineinandergreifenden Plattstichen,
so dass der Faden der Seide möglichst lange ungebogen und ungeknickt
bleibt und seinen Glanz mit dem Glanze der parallel gelegten benach-
barten Fäden zu glattester Oberfläche und zu sehr brillanter Wirkung
von Licht und Schatten vereinigt. Die wundervollen Eigenschaften dieses
Stoffs wurden frühzeitig erkannt und derselbe theils uni, des öfteren aber
in Verbindung mit matten Parthieen, als glänzender Gegensatz und Grund
für letztere, angewandt.
Da mir leider einige der wichtigsten Bücher über die Geschichte
der Seidenfabrikation hier nicht zugänglich sind, so weiss ich nicht, ob
über den Ursprung und die erste Einführung dieses schönen Gewebes in
Europa irgend etwas Gewisses bekannt sei. Meine eigenen Bemühungen,
in dieser Beziehung mir eine feste Ansicht zu schaffen, waren erfolglos.
Mir hat dieses Produkt indessen vor allen anderen Seidenstoffen etwas echt
Chinesisches oder Indisches, je nach der Spezialität seiner Behandlung.
Die Plattstickerei, das opus plumarium, ist in jenen Ländern bis
zu einer besonderen Kunst vervollkommnet, die das Mittel hält zwischen
Plastik und Malerei oder vielmehr beides zugleich ist (worüber in dem
Folgenden noch anderweitig die Rede sein wird), und diese hohe Aus-
bildung der in Rede stehenden Technik, zu welcher sie nur durch
 
Annotationen