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Semper, Gottfried
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder praktische Ästhetik: ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde (Band 1): Die textile Kunst für sich betrachtet und in Beziehung zur Baukunst — München: Bruckmann, 1878

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https://doi.org/10.11588/diglit.66814#0227
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Textile Kunst. Prozesse. Filz. Gewebe.

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leichtern Chlamiden der Griechen waren zwar gewebte aber durch die
Hände und Füsse der Fullones filzartig zubereitete Wollenstoffe. Früh-
zeitig wurden sie zu Hüten, Sandalen und Socken benützt. Ich muss
die weitere technisch-stilistische Bearbeitung dieses interessanten Artikels
sachverständigen Händen überlassen und bemerke nur im Allgemeinen,
dass steife Filze, wie unsere Männerhüte, durchaus stilwidrig sind.
§• 56.
Das Gewebe.
Könnte ich diesen Paragraph würdig ausfüllen, so müsste er für
sich allein ein ganzes Buch umfassen! Was ist hier alles zu machen!
Jeder Salon, jedes Novitätengewölbe, jeder Jahrmarkt, jede Industrie-
ausstellung gibt Zeugniss von der Rathlosigkeit unserer, von den Grazien
verlassenen, im Ueberflusse ihrer Ressourcen gleichsam versunkenen
Kunstweberei. Wie steht sie zurück in Beziehung auf Geschmack und
Erfindung hinter dem, was, bei weit einfachem und beschränktem Mitteln,
in minder industriellen aber kunstsinnigem Jahrhunderten aus ihr hervor-
ging und was noch heute der stehende Webstuhl der Hindu und der
Kurden schafft. Wir haben genug Lehrstühle, auf denen die Wissen-
schaften in ihren Anwendungen auf die industriellen Künste gelehrt wer-
den, es fehlt noch ganz an einer praktischen Aesthetik für Industrielle
und namentlich für Kunstweber, die, für den artistischen Theil ihrer
Industrie nicht vorbereitet, sich desshalb an Künstler und Zeichner zu
wenden gezwungen sind. Diese sind wieder im Technischen schwach
und stehen ausserdem nicht auf der Höhe künstlerischer und allgemeiner
Bildung. Nur ein mit allen Theilen der Weberei, mit dem Maschinen-
wesen, mit der Färberei, sowie mit dem Merkantilen des Faches voll-
ständig vertrauter Industrieller, der dabei zugleich Humanist, Gelehrter,
Philosoph und Künstler im wahren Sinne ist und über eine wohl aus-
gestattete und stilhistorisch geordnete textile Sammlung als Lehrmittel
für seinen Unterricht zu verfügen hat, ist befähigt, ein solches Amt zu
übernehmen. Bei alle dem wird er dem Zeitgeiste und seinen industriellen
Kollegen gegenüber einen schweren Stand haben. Ich für meinen Theil
äussere über dieses Thema lieber gar nichts als Halbes, Zusammenhang-
loses, das den Mangel an gründlichster technischer Kenntniss verrathen
müsste! Das Beste darüber steht vielleicht in Redgrave’s bereits Öfter
citirtem Supplementary Report on Design; doch ist es nicht zusammen-
 
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