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Semper, Hans
Das Fortleben der Antike in der Kunst des Abendlandes — Führer zur Kunst, Band 3: Esslingen: Paul Neff Verlag (Max Schreiber), 1906

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https://doi.org/10.11588/diglit.67330#0015
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Die klassischen Grundlagen abendländischer Kultur

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doch immer wieder zu den großen und klaren Ausdrucks-
mitteln der aus der antiken Baukunst abgeleiteten Formen
zurückgreifen und sie den neuen Aufgaben und Hilfsmitteln
entsprechend umgestalten.
Ebenso sehen wir auch auf den übrigen Kunstgebieten
trotz allen bewundernswerten Neuerungen und Fortschritten
die antike Kunst als eine lebendige geistige Macht fortwirken
und über alle Jahrhunderte hinaus, die zwischen dem Altertum
und uns liegen, wie eine Sonne, die nur zeitweise durch Nacht
oder Sturm verhüllt ward, fortstrahlen. Und wie sollte es
auch anders sein? Ist doch unsere ganze Kultur auf den
Grundlagen des Altertums aufgebaut! Kann man doch das
Latein als eine noch heute lebende Sprache bezeichnen, die
samt ihrer edleren Schwester, dem Griechisch, noch heute in
unsern Gymnasien gelehrt wird! Man vergleiche nur unsere
Kunst mit der chinesischen oder japanischen, so wird man
allein in der Darstellung der menschlichen Gestalt hier und dort
erkennen, daß unsere Kunst mit der griechischen und römischen
Kunst eine Familie bilde, einer zusammenhängenden Kultur-
entwicklung angehöre, welche auch durch die Einführung des
Christentums und die gewaltigsten Umwälzungen, die mit dem
Untergang des römischen Reiches verbunden waren, nicht
völlig aus ihrem Zusammenhang gerissen wurde.
Es soll nun im folgenden versucht werden, nachzuweisen,
wie in der Tat seit dem Auftreten des Christentums und dem
beginnenden Zerfall des römischen Kaiserreichs bis auf den
heutigen Tag der Faden antiker Kunsttradition durch alle Jahr-
hunderte, selbst des dunkelsten Mittelalters hindurch, fort-
gesponnen wurde und auch heutzutage noch nicht abgerissen
ist, so ungestüm auch häufig daran gezerrt wurde. Ja, es
läßt sich sogar behaupten, daß fast ein jeder neue Anlauf der
abendländischen Kunst (wie der Kultur überhaupt) verbunden
war mit einer bewußten Rückkehr zu den Lehren und Vor-
bildern der Antike, mit einer Wiederauffrischung der verblaßten
Erinnerung an dieselbe.
 
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