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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik: Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0032
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SIMPL IN DRUCK

Also das begreife ich wieder einmal nicht, trotz
der größten Mühe. Wie können Menschen über die
Vernichtung ihrer Brüder auch noch mit solcher
rohen Sachlichkeit berichten. Genau und gründlich
sagen,, wie sie es getan haben und welche „Ver-
besserungen" sie anbrachten, damit das „Kreischen"
ihrer Mitmenschen schneller auf hörte.DieTemperatur
der Luft und die Luftfeuchtigkeit spielte eine Rolle,
es ging „leider" nicht schneller, wie zwischen j bis
1 % Minuten.

Menschen iß Minuten lang in Todesqualen.
Das können keine Menschen getan haben, die das
taten, sahen nur wie Menschen aus, das glaube
ich sicher.

Denn was den Menschen zum Menschen macht,
ist die Verantwortung, deren er sich bewußt ist.
Die Verantwortung, die seine Handlungen be-
stimmt und für seine Taten einstehen läßt.
Woher nehmen diese ehemaligen Führer den Mut
zu sagen, das habe ich nicht gewußt — leitende Führer!
Jeder zehnte kleine Volksgenosse wußte Bescheid.
Gibt es denn so viel Erbärmlichkeit?
Woher nehmen sie den Mut zu sagen — das war
Befehl, da habe ich keine Verantwortung dafür?
Gibt es denn so viel Erbärmlichkeit?
Diese freche Stirn haben sie, nachdem ihre Fähig-
keiten uns das tiefste Elend gebracht haben.
Doch — die allergrößten Kälber wählen ihre
Metzger selber.

Sie fanden jeder auch noch einen Verteidiger. Einen
Verteidiger! Ich kann das nicht fassen. Wie kann
man so etwas verteidigen? Daß die Mandanten nicht
Angst haben — und wenn es mit dem nassen Hand-
tuch wäre —, erschlagen zu werden.

Aber das Schlimmste, das Unbegreiflichste ist, daß
nach diesen unmenschlichen Bekenntnissen nicht das
ganze Volk in einen einzigen Schrei der Empörung
ausbrach. Daß es die Ausführungen aufnahm wie die
Anweisung zu einem neuen Waschrezept. Wie müssen
wir heruntergekommen sein, nicht nur äußerlich.
Steht denn vor uns nicht immer die Frage: Kain,
wo ist dein Bruder Abel? Denn jeder aus den un-
gezählten Millionen, die verrottet wurden, ist aus
unserer Mitte, aus unserm Volk verrottet worden.
Jeder meint aber, was sollte ich tun? Wären wir
aber eines Sinnes gewesen, wären wir starke auf-
rechte, verantwortungsbewußte und freiheitsliebende
Menschen gewesen, hätten wir dann erst groß fragen
müssen: Was soll ich tun?

Sieht denn keiner, was mit uns los ist? Meine Ein-
falt kann mir hier keinen Streich spielen, da kann
man doof sein wie man will, das ist handgreiflich.
Doch, was tun wir? Kulturbund in Hamburg,
Kulturbund in Berlin, Kulturbund in Essen, Kultur-
bund in Wiesbaden. Kulturbund, Kulturbund, über-
all Kulturbund.

Schön, sehr schön, doch das Himmelreich kommt
von innen, nicht durch äußere Organisation.
Wir können auf der Erde unser Leben gestalten
wie wir wollen; das ist uns freigestellt. Der Geist
ist das Bestimmende. Nach dem Ergebnis, das wir
vor uns haben, können wir ja sehen, was wir ge-
wollt haben. Aber nicht ums Verrecken will der
Mensch sich das eingestehen.

Stellen wir fetzt nicht die Lichter in uns um, dann
gehen wir überhaupt ganz in die Brüche, wir haben
eine letzte Chance. Eine letzte. Das sagt mir der
simple Menschenverstand. Wir haben eine Auf-
gabe in der Völkerfamilie, aber bringen wir diese
Fähigkeiten nicht zur Frucht, der Sommer ist eines
Tages vorbei und im Winter wächst nichts mehr.
Alles hat seine Stunde. Wir Menschen sind letzten
Endes auch nur eine Frucht auf der Erde.
Wenn das aber so ist, daß diese schmutzigen Eiter-
beulen aus unserm Volkskörper herausgewachsen
sind, ob wir da nicht mal eine Blutreinigungskur
machen ?

Alsdann fangen wir alle bei uns selber an, mit
einem Gesundheitstee und Abführmittel.
(Aber da macht doch wieder keiner mit, lieber
fressen sie Giftpillen.)

Der Simpl.

Steffi Kohl

X

Frühlingsduett

„Sieh' doch, Heinriclt, wie der Flieder
Sirli schon lenalich will entfalten!"
„Richtig, Erna, immer wieder
Bleibt es damit bei dem Alten."

„Blumen hnospen schon verborgen
In den sanft begrünten Auen."
„Kind, ich habe andre Sorgen,
Als nach Knospen ausxuschauen !"

„Himmelwärts sieh Lerelien schwingen,

Jubilierend Frühling künden."

„Ja, ich hör' sie selber singen,

Du scheinst mich stocktaub zu finden."

„Wie aus südlich heißen Zonen
Laulich linde Lüfte wehen!''
„Müssen'se, indem dort wohnen
Menschen, die ofl nackend gehen."

„Sieh', wie auf der warmen Wiese
Schon die Kühe muhend ruhen!"
„Seh' ich, doch was sollen diese
Andres tuen, als xu muhen?"

„Vor dem veilchenblauen Himmel
Weidenkätxlein silbern stehen."
„Warum nicht? Du hast den Fimmel,
Alles anormal xu sehen!" A. Wisbeek

IM ZEICHEN DER ZEIT

„Einem solchen Knirps gehört noch Muttermilch, aber
keine Zigarette!"

„Was wollen Sie? Heute ist eben alles nur mehr ,Ersatz'!"

IN DER KISTE

Ich muß diese kleine Geschichte mit dem Pro-
nomen „Ich" anfangen; das „wir", das meist
alles Wissen und Verstehen einzubegreifen
scheint, wird später verstehen warum. Ich also,
mußte infolge einer schmerzhaften Nachricht
die Reise von München nach Stuttgart riskieren.
Der Tag hatte schon am frühen Morgen zu
dämmern angefangen und obwohl es schneite,
Häuser, Straßen und Menschen, alles blieb grau
und verweint. Ja grau, und wurde grauer, und
wurde fast schwarz als ich in jene mysteriöse
Kiste, die man Waggon nennt, eintrat. Von nun
an mußte ich meine Sinne auf Dunkel einstel-
len,meine Sinne und alles, was ein Ich ausmacht.
Wurde ich durch Menschengewalt zu einer Bank
getrieben, fand ich tastend einen Platz oder be-
wirkte mein höfliches Bitten Bereitschaft zur
Gnade? Nur „wir" kann antworten, ich selbst
weiß es nicht. Ich kann nur klar berichten, daß
schon eine volle Stunde vor Abfahrt des Zuges
ich auf einer Bank aus hartem Holz saß. Ich
hörte atmen, ich hörte Papiergeräusche, hörte
kauen und stöhnen. „Brot", dachte ich, „Brot!"
Und dachte weiter: „haben sie Wurst dazu,
Käse, Butter, kalten Braten?" Sie kauen zu lang,
sie kauen zu gern, da stimmt etwas nicht. Ich
allein bin verlassen, bin Neuling in dieser Welt,
kenne die Wege nicht, die Leute nicht. Ich allein
lebe von Luft und Liebe wie eine flüchtige
Idee ...

Um fünf Uhr, als ob sie bis jetzt kleben ge-
blieben wäre, löste sich die Kiste und trug
gleichgültig, was sie enthielt, dahin, dahin ...
Ein Mann saß neben mir. Ich fühlte die Zähig-
keit seines Fleisches, das nicht zu wissen schien,
daß eine Frau und eine kleine Handtasche wei-
cher sind als die' Bretter einer Bank. Die Per-
sonenkiste war wohl zwei Stunden unterwegs,
als der rechte Ellenbogen beschriebenen Mannes
meine Nase beinahe streifte. Die rechte Hand
zog ein Papierchen aus der rechten Mantel-
tasche. Die linke etwas Tabak aus der linken
Tasche. Ich weiß nicht, wer den linken Ellen-
bogen erkannte. Doch welch eine Unterbre-
chung, welche Pause zwischen Kauen und Stöh-
nen würde für mich die Entstehung jener Ziga-
rette im Dunkel! Welche Lichtchen durch die
schmale,klappernde Glasscheibe funkelten mir
zu Hilfe, um dieses zu sehen! Als für das zweite
Mal der rechte Ellenbogen mir den linken Bu-
sen eindrückte, entschloß ich mich, mein kleines
Feuerzeug zu suchen, zu finden und anzubieten.
Das gelang mir.

Der Mann mochte dreißig Jahre alt sein, so
schätzte ich, als er mein Feuerzeug benutzte. Als
Dank, fragte er mich, wohin ich reise.
„Nach Stuttgart", antwortete ich ehrlich und
demokratisch.

„Dort gibt es viele Äpfel", brummte er.

„Ja, dort gibt es viele Äpfel", antwortete ich

nach bestem Wissen und Gewissen.

„Sie fahren um Äpfel zu holen!", sprach der

Mann kategorisch.

„Nein, ich fahre nicht um Äpfel zu holen", er-
widerte ich.

„Sie fahren um Äpfel zu holen, ich verstehe
Sie", antwortete er.

„Nein, ich fahre nicht um Äpfel zu holen, wie
könnte ich auch das, Äpfel sind schwer und
worin sollte ich sie transportieren, ich habe nur
einen kleinen Koffer bei mir."
„Ja, ja, ich verstehe, Sie wollen Äpfel holen",
hörte ich noch. Und dann wurde alles wieder
wie vorher. An irgendeiner Station stand mein
großer, kräftiger Nachbar auf, zog einen Ruck-
sack über meinen Kopf hinweg. Die Riemen
schleuderten mir ins Gesicht und ein Haken
schien einen eigenen Willen zu haben. Dies alles
geschah sehr kurz, denn die Welt ist eilig. Der
aufrechtstehende Mann sprach auch kurz und
laut: „Ich habe Sie verstanden! Guten Abend!"
Die Kiste rollte weiter zu jenen Äpfeln, die nie-
mand mir zeigte. j piim.

ö Speedy Schlichter

32
Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Im Zeichen der Zeit"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Kohl, Steffi
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 3, S. 32.

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