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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0044
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DAS BEGRÄBNIS I. KLASSE

SIMPL OHNE DRUCK

Ich betrat das Leichenhaus, einen langen, weiß-
getünchten Saal, der mich mit seinen zahlreichen
verglasten Nischen sofort an ein verkommenes
Hochseeaquarium erinnerte, das ich einmal während
des Krieges in Triest gesehen hatte. Dort trieben
verhungerte Fische, die aufgedunsenen, weißlich
glänzenden Bäuche mir zugewandt, auf stumpf-
grünem, fauligem Wasser, und auch hier sah mir
der Tod alles Kreatürlichen fahl aus dem verstaub-
ten Grün von Lorbeer und Tannenreis entgegen.
Darüber, geradeso wie damals, ein Hauch herz-
erkältender Einsamkeit.

Neben mir ging Frau Meier, eine Freundin des
Trauerhauses, die so wie ich gekommen war, den
Hinterbliebenen einen kleinen Teil ihrer Last ab-
zunehmen. Frau Meier hatte jenes Aquarium in
Triest nie zu Gesicht bekommen, und konnte somit
auch keine unpassenden Parallelen ziehen. Die
lieblose Kälte des Raumes konnte ihrer wohltempe-
rierten Seele nichts anhaben, auch schien sie es
durchaus nicht eilig zu haben, die kleine Gruppe
der Trauergäste zu erreichen, die im Hintergrund
des Saales auf uns wartete.

In ihre Augen war ein Ausdruck angespannter Neu-
gier getreten. Vor jeder Nische blieb sie stehen,
warf einen kurzen, abschätzenden Blick in das Ge-
sicht des darin aufgebahrten Toten, und faßte dann
ihren Eindruck in einem kurzen Satz zusammen:
„Eine schöne Leiche — auch eine schöne Leiche —
lauter schöne Leichen."

Wir kamen zu einem Toten, dessen Leib von einer
häßlichen Krankheit schrecklich zerstört worden war.
Frau Meier schien peinlich berührt. Einen Atemzug
lang zögerte sie, aber dann gab sie sich einen Ruck
und sagte entschlossen: „Eine schöne Leiche."
Frau Meier log, und doch konnte sie weder mich
noch sich darüber hinwegtäuschen: Dieser Tote war
" nicht schön. Selbstverständlich, schöne Tote gibt
es nur im Kino. Aber warum sollte Frau Meier
diese Tatsache leugnen? Aus gewohnheitsmäßiger
Unwahrhaftigkeit, aus Angst vor der Wirklichkeit,
oder sollte .... gar aus Pietät? Nein, es wäre
nicht auszudenken, wenn die deutsche Bürgerlichkeit
begänne, sich nun auch noch aus Zartgefühl über die
Wirklichkeit hinwegzusetzen!

Wir waren angelangt. Niemand schien unserer An-
kunft Beachtung zu schenken. Man hatte sich eng
um das Glasfenster geschart, hinter dem die Ver-
storbene aufgebahrt lag, und bemühte sich mit
gestrecktem Hals, einen Blick in ihr lebloses Ant-
litz zu werfen. Auch Frau Meier, eine kleine, wohl-
beleibte Person, stellte sich stracks auf die Spitzen
ihrer ob dieser Anstrengung zitternden Füße, und
versuchte über die Schultern ihrer Vorderleute hin-
weg der Toten ins Gesicht zu sehen. Aus aller
Augen sprach jener peinigende Ausdruck schamloser
Neugierde, der mir nun schon nicht mehr ganz un-
bekannt war, und jäh fühlte ich mich an einen
Ausspruch Clemenceaus erinnert, den ich einmal als
überspannt und abenteuerlich belächelt hatte: „Alle
Deutschen lieben den Tod; sie sind von ihm
fasziniert."

Ganz vorne, in der ersten Reihe, stand mein Freund,
der Sohn der Verstorbenen. Er überragte seine
Umgebung um Haupteslänge, und so konnte ich sein
Gesicht sehen. Es war starr und teilnahmslos, seine
Augen schienen mir grau verschleiert. Er gestand
mir später, daß er diese halbe Stunde, da ihn die
bürgerliche Etikette dazu zwang, in ein Gesicht zu
sehen, das er im Leben so geliebt und das ihm der
Tod so fremd gemacht hatte, zu den schwersten
seines Lebens zähle.

Wir waren gerade zum richtigen Zeitpunkt gekom-
men.

Im Hintergrund der Nische öffnete sich eine Türe,
ein Friedhofswärter in abgetragener Uniform er-
schien. Seine Bewegungen waren zielbewußt und
verrieten lange Gewöhnung. Seine Hand machte
eine knappe, entschuldigende Geste.

Na, jetzt hat sie ihre Ruh!

Ratsch! Man zieht den Vorhang zu!

In das Scharren der Vorhangringe mischte sich ein
unterdrücktes Aufschluchzen. Der Haufe trollte sich
schwerfällig der Kapelle zu.

Von nun an verlief alles in angenehmer Kürze und
Sachlichkeit.

Kaum waren wir in der Kapelle angelangt, fuhr auch
schon der Sarg vor, lautlos, mit fast elegantem
Schwung, auf Stahl und Gummi vortrefflich gefedert,
geschoben von vier Friedhofsbeamten. Diese trugen
lange, abgenutzte Mäntel mit großen, schwarzen

Hornknöpfen, auf dem Kopf jeweils einen altertüm-
lichen Dreispitz mit schwarzer Kokarde. Die eine
Hand ruhte am Sarggriff, in der andern trug ein
jeder einen dicken, schwarzen Stock mit mattglän-
zender Messingkugel.- Das Ganze machte den Ein-
druck einer schäbigen Theaterkulisse, in der sich
Altes mit Neuem wunderlich stillos mischte.
Die Orgel spielte, es wurde gesungen, vier würdige
Herren in Schwalbenschwänzen und steifen Hüten
bliesen kräftig Trompete und Posaune. Der Pfarrer
erschien in geschäftsmäßiger Eile und machte sich
mit sachlicher Würde an die Abwicklung seiner
Obliegenheiten.

Hinter ihm standen mit Weihwasserkessel, Räucher-
faß und Holzkreuz seine drei Ministranten. Der
eine schielte, der andere war etwas verwachsen, nur
der dritte machte einen halbwegs normalen Eindruck.
Irgendwie erschienen auch sie mir, ebenso wie die
kostümierten Sargtrabanten, ziemlich deplaciert.
Was sollte dieser mißratene Pomp am Grabe des
toten Bürgertums? „Ein Begräbnis 1. Klasse", sagte
Frau Meier leise, und in ihrer Stimme schwang so
viel kindliche Bewunderung für die finanzielle Lei-
stungsfähigkeit der Hinterbliebenen, daß es meiner
ganzen Bosheit bedurfte, ihr das Bibelwort von der
Gleichheit aller Toten vor Gottes Thron entgegen-
zuhalten.

Die Zeremonie machte inzwischen rasche Fortschritte.
Es war kalt, und der Pfarrer hatte den Schnupfen.
Niemand konnte es Ehrwürden verargen, daß er sich
zwischen zwei Sterbegebeten kräftig die Nase
schneuzte. Immer noch besser ein Geistlicher mit
einem Taschentuch vor dem Gesicht, als ein Nasen-
tröpfchen im Psalter.
Wir verließen die Kapelle.

Voran schritt Hochwürden und seine Ministranten.
Das Kreuz schwankte über ihren Köpfen, der Weih-
rauchkessel schaukelte leise an seinen Ketten und
hinterließ in der glasklaren Winterluft bläuliche
Duftschwaden.

Der Weg zur Grabesstelle war recht weit, und so
hatte man es eilig. Die Menschen starben zu jener
Zeit wie die Fliegen, und so war vielleicht schon für
die nächste halbe Stunde eine neue Beerdigung an-
gesetzt.

Hier und da begegneten uns ein paar Leute, die den
Gebete plappernden Zug, halb ärgerlich über den
Aufenthalt, halb gelangweilt, an sich vorüberziehen
ließen.

Vor mir ging ein untersetzter, kurzbeiniger Herr, in
tadellosem, grauem Wintermantel, altväterlich ge-
streiften Beinkleidern, über den dicken Bürgerschädel
einen glänzenden Zylinder gestülpt. Obwohl ihm das
Mitkommen recht sauer werden mochte, sprach er
doch den ganzen Weg beharrlich ein Sterbegebet nach
dem andern. Neben ihm schritt barhäuptig und
würdevoll ein junger Geistlicher, der immer, wenn
dem Kleinen die Luft ausging, mit kräftiger Stimme
und um einige Tonlagen höher einfiel, und ihm so
eine kleine Atempause verschaffte.
Am Grabe wurde die Tote von einer dreiköpfigen
Abordnung des „Seelenbundes kath. Mütter und
Jungfrauen e. V." erwartet, die mit Blumenstrauß
und Fahne erschienen war, der toten Vereinsschwe-
ster die letzte Ehre zu erweisen.
Die vier Friedhofswärter senkten den Sarg in die
Grube, standen kurz und militärisch stramm, mach-
ten auf ein Zischsignal einen ruckartigen Diener, der
den Eindruck erweckte, als habe man ihnen alle-
samt mit einem Schlag den Kopf vom Leibe ge-
wischt, und stolperten dann nach einer mißlungenen
Kehrtwendung nach allen vier Windrichtungen aus-
einander.

Der Geistliche trat ans Grab und begann mit der
üblichen Begrüßung der „Christlichen Trauernden"
seine Grabrede.

Christliche Trauernde, ein kühnes Wort, nachdem
seit 1945 Jahren wahres Christentum ein so um-
strittener Begriff geworden ist. Die Rede war kurz,
scheinbar ließ sich über das Leben einer guten Mut-
ter nicht mehr aussagen, als daß sie darin eine
ebenso gute Katholikin gewesen sei. Trotzdem war
der Fahnenträgerin des Seelenbundes e. V. inzwi-
schen ihr Amt zu beschwerlich geworden, und sie
hatte das Zeichen ihrer Würde kurz entschlossen
in eine Astgabel gehängt.

Man kondolierte. Frau Meiers großer Augenblick
war gekommen.

Frau Meier war der Toten herzlich zugetan gewesen,
von ihren zahlreichen Eigenschaften sehr eingenom-
men, und somit über ihr plötzliches Hinscheiden zu-

Sonderbar — sonderbar, woher nur dieses
Brett. Schließlich — jeder hat eins — aber
dieses ist doch besonders stark.
Meint doch kürzlich ein Vermittler, eine künst-
lerische Tanzveranstaltung wäre jetzt nicht das
Gegebene, man solle erst den politischen Zu-
sammenbruch abwarten.
Na — mehr brechen können wir wohl nicht.
Und wer da wartet, daß die Zeiten für seinen
Nazi-Militarismus wieder blühen sollten —
nein, nein, soviel versteht jeder, ein toter Fisch
ist tot, auch wenn er ab und zu zuckt. Bald
wird er stinken, wenn man ihn nicht verarbeitet.
Es ist doch so, die Weltgeschichte hat ihren
gesetzmäßigen Ablauf. Wir Deutsche hinken
immer ein wenig nach. Aber was vorbei ist, ist
vorbei. Mit noch soundsoviel Kühlschränken
könnte man keine Eiszeit wieder zurückrufen.
Und für diesen Ungeist, der sich im Nazismus
am stärksten auswirkte, ist die Zeit vorbei. Die
Zuleitung vom Elektrizitätswerk, das alles auf
der Erde belebt, ist gesperrt. Sie können sich
anstrengen wie sie wollen, es nützt ihnen
nichts. Soll sich deswegen niemand aufregen.
Diejenigen aber, denen die Sehnsucht nach Frei-
heit im Herzen brennt, müssen bewußt werden,
daß sie die Stärksten auf der Erde sind, daß
es in ihrer Hand liegt, wie sich die Verhält-
nisse gestalten. Die ganze Zeit geht mit ihnen.
Wir müssen nur Mut haben und um unsere
Stärke wissen. Der Geist ist das Bestimmende,
nicht die Kanone, nicht die Lüge, nicht die Ver-
schwörung, nicht der ganze Kram von Schlech-
tigkeiten, der in der Sucht nach Macht gipfelt.
Dem Simplen gibt's der Herr im Schlaf. Es ist
gewiß, jetzt wird jeder zu Fall kommen, den
nicht die Not unseres Volkes und letzten Endes
die Not der Menschheit zu seinem Handeln
treibt. Es ist gleich was er tut, ob er Künstler
ist oder Handwerker, Gelehrter oder Politiker;
hat er dieses Eine nicht, so muß er abtreten.
Wir sind ja eigentlich auch alt genug, daß wir
auf der Erde mal was Vernünftiges anstellen und
nicht immer in Blödheit zuschauen, wie Un-
fähige sich produzieren.

Also 'ran — und richtig eingesetzt — wir
gewinnen unbedingt.

(Und wenn Ihr da nicht mitmacht---/)

Der Simpl

tiefst betrübt. Es war ihr ein Herzensbedürfnis,
unter endlosem Händeschütteln all diesen Gefühlen
Ausdruck zu geben. Die Schwester meines Freun-
des hatte bis jetzt ihr Leid mit bewunderungswerter
Standhaftigkeit getragen, aber diesem Uebermaß an
Teilnahme war sie nicht mehr gewachsen. Sie brach
unter Frau Meiers wohlüberlegter Rede in hilfloses
Schluchzen aus, und diese, vom Erfolg ihrer Worte
tief gerührt, beeilte sich, ihre Tränen mit denen
ihres Opfers zu mischen.

Ich befand mich bereits auf dem Heimweg, als mir
mit Schrecken bewußt wurde, daß ich, während ich
meinem Freunde teilnehmend die Hand drückte, ver-
bindlich gelächelt hatte, ganz so, als stände ich in
meinem Laden einem kauflustigen Kunden gegen-
über. Schwer fiel mir auf die Seele, was ich in der
verflossenen halben Stunde von meinen Mitmenschen
gedacht hatte, und ich fragte mich beschämt: „Wie
kann sich ein Mensch anmaßen, über eine Gesell-
schaft zu richten, deren Fäulnis ihn selbst schon
so sehr berührt hat, daß er ein wahres Gefühl ganz
automatisch unter einem falschen Lächeln verbirgt?"

H. Forster

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