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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0045
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M. Radler

VERRÜCKTE ECKE

DIE KURZEN UND DIE
LANGEN SÄTZE

Unsere Sätze müßten jetzt kurz sein! Wir haben
keine Zeit zu einem langen Aufbau derselben. Oder
sinnen wir noch in langen ausführlichen Darlegun-
gen nach? Wenigstens dann, wenn wir nicht über die
Buttermenge, die wir für das Brot verwenden dür-
fen oder die täglichen Fleischrationen nachgrübeln,
sondern abstrakt denken?

Denken wir überhaupt noch viel abstrakt? So wie
z, B. früher Kant über den kategorischen Imperativ
und Lessing über das Schöne in der Kunst?
Ach nein! Unsere Gedanken sind rein praktischer
Natur. Und wer praktisch nachdenken muß, ob 10
oder nur 5 g Fett zum Mittagessen reichen, der darf
nicht lange gTÜbeln, sonst schnappt man ihm die
leckere 10-g-Speise vor der Nase fort. —
Also, wir denken kurz! Und wir können nur auf
kurze Sicht bestimmen. Auch wenn wir lange auf
die Straßenbahn warten, formen wir nur kurze
Sätze.

„Warum kommt sie nicht, die Holde?"
,,Wo mag sie stecken?"
„Erscheint sie bald?"
„Komme ich zu spät zum Zug?"
„Versäume ich mein Rendezvous?"
„Wird ,sie' (oder ,er') ebenso geduldig und aus-
giebig auf mich warten wie ich auf diese verflixte
Straßenbahn?" —

Alles kurze Sätze! Ich glaube kaum, daß bei dieser
Gelegenheit jemand abstrakt nachsinnt. Oder tun
Sie es vielleicht, wenn „sie" endlich kommt und Sie
auf dem Trittbrett stehen, wo jeder unsanfte Stoß
Sie aus dem Gleichgewicht bringen kann? Und wer

das Gleichgewicht verliert, verliert dabei auch den
leitenden Faden seines Gedankens. Ein Satz ohne
leitenden Gedanken entbehrt jedoch des Sinnes.
Wir denken kurz! Und das ist auch besser so. Wo-
zu denn lange Phrasen. Besser knappe Worte, die
den Tatsachen entsprechen. „Ja", „nein"" — das
andere ist von Uebel!
„Es gibt Butter" oder „es gibt keine!"
„Es gibt Zucker" oder „es gibt keinen!"
„Es gibt Holz" oder „keines"!
Was benötigen wir noch? Für das tägliche Brot
wird ja gesorgt. Auch für die tägliche Straßenbahn.
Und unser halbes Leben verläuft in oder an ihr.
Wer das nicht weiß und in langen Sätzen denkt,
gehört nicht in die Gegenwart.
Die Gegenwart ist knapp an allem. Man kann schon
denken, wird aber immer unterbrochen. Es ist gut
so, denn Unterbrechungen bringen Abwechslung.
Leider keine Abwechslung in den Speisen! Aber
mindestens in den Gedanken! Auch sogar in den
Sprachen haben wir Abwechslung. Wir können Eng-
lisch, Französisch, Russisch, Tschechisch, Polnisch
plaudern. Doch auch da besser nicht in zu langen
Sätzen, sonst vergeht uns der Atem. Und atmen
will man, auch in unserer Zeit! Fließende Reden
bei einem Glas Sekt können wir nicht halten. Und
bei unserem Bier reden wir nicht viel. —
Wie Leonardo da Vinci können wir nicht jahrelang
eine Mona Lisa malen. Und wie Goethe können wir
unsere Graphik auch nicht durch die Lupe betrach-
ten. Pechstein, Beckmann, Kokoschka, Grosz, sie
sind auch ohne Lupe deutlich!

Die Sprache spiegelt die Seele eines Volkes wider
und die der Zeit. Haben wir jetzt Zeit für Abhand-
lungen und Aufsätze? Worüber? Ueber die alte Kunst,

die wir brockenweise zu sehen bekommen? Ueber
Bücher, die wir stückweise ergattern? Ueber Tech-
nik und Architektur? — Unsere Architektur bietet
ein phantastisches Bild. Aber auch dieses Bild ist i
aus knappen Sätzen gebildet — kein langes Straßen-
bild mit eingereihten Häusern. Ein, zwei Häuser
stehen da wie zwei oder drei gute Sätze. Das übrige
sind Fragmente. Man darf sich auch gedanklich in
diese Fragmente nicht vertiefen. Man muß kurz
denken, tatkräftig. Und froh sein, wo man Freude
findet. Kurze Freude.

Aber sie ist da! Im Frühling! Im Sonnenschein!
In einem Bündel rot-weißer Radieschen! In einem
Osterei! In einer erkämpften Nummer der Neuen
Zeitung. In einer erstandenen (im wahren Sinne des
Wortes) Karte fürs Schauspielhaus. In einem ge-
sicherten Platz auf dem Trittbrett der Straßenbahn.
Ach, in vielen, kurzen Freuden! In der Kürze liegt
die Würze!

Warum sollen wir nicht unserer Zeit den Charakter
der Kürze einprägen? Mindestens wäre das Stil.
Und warum nicht damit das Leben würzen?
Das liegt wenigstens in unserer Macht. Dabei wür-
den wir bestimmt nicht Friedrich den Großen nach-
ahmen. „Marsch!" „Vorwärts!" „Sie trinken keinen
Kaffee! . . . ." Wir haben es besser, wir trinken
zwar keinen Bohnenkaffee, fürwahr nicht..., aber
wir trinken offen und ehrlich unseren Bodenkaffee.
Nicht ausgiebig, aber es langt. Sogar in den Kaf-
feehäusern bekommt man ihn und wer Glück hat,
ein Stück Kuchen auf R-Marken dazu!
Glück muß man haben! Kein langfristiges, aber
immerhin kurzes! Immer alles kurz! Wenn man
kurz gehalten wird, muß man auch kurz reden! —

Sjerowa

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Bildbeschreibung

Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Verrückte Ecke"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Radler, Max
Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 4, S. 45.
 
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