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Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik: Der Simpl: Kunst, Karikatur, Kritik — 1.1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.7376#0056
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m.

PREMIERE

Eine Stunde verging schon, seitdem das Kind auf die
Welt kam. Die Pflegerin wickelte es ein und ging zum
Frühstück, denn das Leben geht weiter mit all seinen
herrlichen Gewöhnlichkeiten und Nebensächlichkeiten;
nichts kann seinen Lauf hemmen, nicht einmal ein Mi-
niaturweltereignis, wie die Geburt eines neuen Men-
schen. Der Säugling liegt unbequem in seinem Steck-
kissen und langweilt, sich. Die Verwandten beugen sich
über ihn und suchen bekannte Züge in seinem Gesicht-
Die Wahrheit aber ist, daß das Kind in diesem Augen-
blick noch niemand ähnlich sieht, es ist weder Emmerich
noch Eva verwandt, es entschied noch nicht über die
Ähnlichkeit und blickt mit zurückhaltender Gleichgül-
tigkeit vor sich hin. Der Säugling ist nun, in der ersten
Stunde seines Lebens, noch Verwandter der ganzen
Menschheit. Jetzt ist er noch das Modell, Modell des
„homo sapiens", der „Mensch" gleichsam im Entwurf,
ein primitives Konzept. Nun könnte er noch allerlei
werden. Bald wird er ein Hänschen sein, dieses gewisse,
ekelhafte oder goldige, gescheite oder vorwitzige Häns-
chen. In dieser ersten Stunde seines Lebens aber ist er
noch so frei, wie er nie mehr wird. Nach einigen Tagen
hat er bereits Sympathien und Antipathien, findet den
Tabakgeruch Onkel Desiders abscheulich und liebt den
Milrhgeruch der jungen Mutter. In diesem Augenblick
liebt er noch nichts und niemanden. Große Sache, mein
Lieber! — denke ich, während ich bei seiner Wiege
sitze. — Du bist nun und noch einige Stunden, vielleicht
bis zum Augenblick der ersten Fütterung, der größte Herr
auf dieser Welt. Du bist noch niemanden etwas schul-
dig. Sobald du den ersten Schluck Milch aus der Brust
deiner Mutter gesogen hast, bist du bereits ihr Schuld-
ner, hast dich den Menschen verbunden, hast Wünsche,
Liebe und Flaß. Jetzt ist er noch rein, und rein nicht nur
im Windel-Sinne des Wortes. Seine Nägel sind lang,
die Haare dicht, das Gesicht voll und rot. Er kommt
aus dem Glück der Geborgenheit, aus der einzig glück-
lichen Zeit des Lebens, aus der vollkommenen Bewußt-
losigkeit; ja, er kommt ein wenig aus dem Tod. Natür-
lich brüllte er, als er ankam. Recht hat er! — denke
ich — auch ich würde brüllen. Mit seinem ersten Blick
sah er die Sommersonne, doch selbst die Sonne gefiel
ihm nicht. Ahnt er etwas? Schon horcht er auf, und
kratzt sich. Ich räuspere mich und spreche leise zu ihm;
— Willkommen! Ich bin Onkel Alexander. Dies da ist
das Zimmer im Sanatorium. Dort im Bett liegt deine
Mutter. Danke, es geht ihr gut. Ja, sie liebt dich, das ist
gewiß. Alles andere ist ungewiß. Auch ich weiß nicht
viel mehr. Dein Vater lustwandelt draußen im Flur und
empfängt mit zufriedenem Gesicht die Glückwünsche.
Er ist furchtbar stolz; freilich hat er auch ein Meister-
werk vollbracht! Das verstehst du noch nicht. Wir
schreiben Neunzehnhundertfünfunddreißig nach Christi
Geburt, falls du es nicht wissen solltest. Natürlich weißt
du es nicht, deine Zeitrechnung beginnt irgendwo frü-
her, am Anfang der Zeiten. Nun rechnest du noch mit
dem Unendlichen, mit dem Nichts. Bald mußt du es dir
angewöhnen, mit dummen, irdischen Maßen, mit ein—
zweitausend Jahren zu rechnen. Deine Augen sind blau;
vermutlich weißt du auch das nicht. In einigen Tagen
ändert sich ihre Farbe; dann sind bereits hundert Klei-
nigkeiten in deine Augen gefallen, Licht, Farben und
Linien, von denen sie finster werden, gleichsam vor Zorn
und Verwirrung. Nun sind sie noch blau, herrlich blau;
es gibt kein „wie", keinen Vergleich für dieses Blau, das
nicht himmelblau ist und nicht blau wie ein Bergsee;
deine Augen sind einfach blau, wie die Augen eines
Neugeborenen, eine Stunde, nachdem er die Welt er-
blickt hat. Ich kann dich beruhigen, du hast alles, was
man fürs Leben braucht. Hände, Füße, eine komplette
Ausrüstung. Jetzt hängt schon alles von dir ab, mein
Lieber. Es wird kein großes Vergnügen sein. Sehnsucht
wird es sein, ewige Sehnsucht, Schmerz, Unbefriedigt-
sein, Zorn und Aufwallung; und zuweilen ein kurzes
Flimmern von dem wunderbaren Schein, für den es sich
vielleicht lohnt zu leben; wenn du für einen Augenblick

Daß Th. Th. Heine, der geniale Zeichner des alten
„Simplizissimus", schon vor Jahren gestorben ist,
dürfte allgemein bekannt sein. Weniger bekannt
aber ist, daß er noch lebt. Als bei der „Machtüber-
nahme" eine Horde verwilderter, auf Diebstahl
ausgehender Studentchen nach Ausplünderung der
Redaktionskasse die Bulldogge des „Simplizissi-
mus" zertrampelt hatte, brachte sich Heine vor dem
nazistischen Barbarentum über die Pässe des Baye-

irgend etwas oder irgend jemanden liebst. Aber auch
das wird anders sein, wie du dir vorstellst, nicht so pa-
thetisch, viel schlichter, sachlicher. Nun, ich will dich
nicht erschrecken. Du bist haargenau wie ein Mensch.
Man könnte auch sagen: für einen Menschen bist du ge-
rade genug vollkommen . . . Deine kleinen Organe, das
wunderbare Herz, die unfaßbaren Drüsen, die vibrie-
renden Nerven, alles arbeitet bereits in vollkommenem
Zusammenklang. Diese kleine Maschine, dein Herz, das
schon seit einigen Monaten und einer Stunde schlägt,
wird bis zur letzten Stunde so gehen, ohne einen ein-
zigen Takt auszulassen, hoffentlich viele viele Jahre.
Jetzt aber ist es vollkommener, als es jemals werden
kann, wenn du auch noch so acht gibst und es abhärtest.
Die Aufgabe, zu der es sich rüstet, ist für einen Her-
kules bestimmt; es muß das Leben durchdienen. Die fri-
schen Zellen deines Körpers können nun noch alles er-
tragen; du kommst aus dem Vorhof des Todes, der zu-
gleich auch der Vorhöf des Lebens ist, denn im Unend-
lichen herrscht Raumknappheit. Meine Ratschläge sind
folgende: rauche nicht, trinke keinen Alkohol, lebe
mäßig . . . Ach, du, ich weiß gar nichts. Lebe, wie du
eben kannst. Ich sage auch nicht, du sollst „brav",
„treu" oder „fleißig" sein; du wirst gewiß auch brav
und treu sein und inzwischen auch unverschämt und
niederträchtig. Du wirst eben ein Mensch sein. Warum
siehst du mich so kühl an? Gefällt es dir nicht? Man
muß es ertragen, Freundchen. Allerdings gibt es viele,
die es nicht ertragen und durchgehen. Jetzt kennst du
noch nicht die Furcht, weißt nicht, wie es ist, wenn es
dunkel wird oder wenn das Essen nicht zur Zeit ge-
bracht wird... Ich beneide und bemitleide dich. Ich
weiß bereits alles, auch das,daß ich im Besitz dieses mei-
nes Wissens weder viel klüger, noch viel glücklicher ge-
worden bin als du hier bist, in dieser feierlichen Stunde
des Lebens, bei der Premiere. Dein Auge kennt jetzt
noch keinen Unterschied zwischen der Weckeruhr und
mir, Onkel Alexander. Aber sieh, schon steckst du die
Finger in den Mund; du möchtest etwas .. . Schon fängt
es an. So beginnt es. Was willst du, mein Süßes? Etwas
Milch? Ja, etwas Milch, dann einen Ball, ein Holz-
pferdchen, eine goldene Uhr, ein Familienhäuschen, ein
Auto, Bargeld, deines Nächsten Gut, Gold und Frau.
So beginnt es und so geht es weiter. Du kannst nichts
dafür. Weißt du, wo du lebst? Auf der Erde. Das hast
du dir gut ausgesucht, mein Lieber. Du lebst auf der
Erde; das ist so ein Stern, mit Meer und Festland; nicht
etwa ein bedeutender und erstklassiger Stern, nur ein
zweitklassiger Planet eines Sonnensystems, unter Mil-
liarden von Sonnensystemen. Aber wenn dir ausgerech-
net dieser paßt ... In diesem Augenblick, in der ersten
Stunde deines Lebens werden überall auf der Erde Gas-
bomben gefüllt, damit du auf dieser Erde nicht lange
und ruhig lebest, aber du mußt wissen, daß auch in dir,
wie in jedem etwas Unsterbliches steckt und außerdem
dein eigenes Schicksal, das von dem der Menschheit un-
abhängig ist; ich werde bei dem heiligen Antonius eine
Kerze für dich anzünden und hoffe, daß es dir besser
gehen wird. Ich hoffe es; glaube es aber nicht. Denn,
siehst du, schon in diesem Augenblick, in der ersten
Stunde deines Lebens, wo du so rein und korrekt in
unserer Mitte ruhst und auf deiner Stirne noch' der Me-
teoren Ätherstaub liegt: schon in diesem Augenblick
bist du voll von Wünschen, und wer etwas will, muß
dafür auch zahlen. Auch du wirst zahlen. Nach allen
Zeichen und Gesetzen des Lebens wirst du mich über-
leben. Ich bin darüber nicht besonders erfreut, aber auch
nicht böse. Bitte, wenn du mich überlebst, beschuldige
mich nicht sehr streng wegen der Welt, die ich dir als
Erbe hinterlasse. Auch ich erhielt sie so und konnte nur
recht wenig an ihr bessern und vervollkommnen. Schlafe
gut, iß, trink, lebe glücklich, die Welt gehört von die-
sem Augenblick an auch dir. Erlaube, daß ich sie dir mit
der Geste des Hausherren anbiete, samt Meer, Palmen-
hain, Dichtung und Gasbombe. Fühle dich wohl in unse-
rem Kreise. Willkommen, mein Lieber! A. Märai

Tischen Waldes in Sicherheit. Rechtzeitig noch, denn
die braunen Kopfjäger hätten ihn und den Schrift-
leiter des Blattes, Franz Schönberner, nur allzu-
gerne in das Verzeichnis der „Gekillten" aufgenom-
men. Schönberner, unter dessen Leitung das Blatt
seine künstlerische und literarische Vollendung
erreicht hatte, entkam nach Amerika und lebt
dort in New York- Er war nie tot. Anders mit
Heine. Er verbrachte neben Oskar Maria Graf vier

Jahre in Brünn und übersiedelte von dort nach
Stockholm. Hier starb er, wie die meisten wissen.
Nach seinem Tod schrieb er ein entzückendes Buch
„Ich warte auf Wunder", das in deutscher, schwe-
discher und dänischer Sprache erschienen ist. Wir
wenige aber, die wissen, daß Th. Th. Heine noch
lebt, überschicken ihm unsere herzlichsten Grüße
und wünschen ihm noch einen langen, frohge-
muten Aufenthalt im Diesseits!
Noch ein zweiter Mitarbeiter des alten „Simpli-
zissimus", der Schriftsteller August Wisbeck, hat
das Zeitliche gesegnet. Über sein Ende berichtet
dessen Freund Franz Schönberner aus New York
im „Saturday Review" vom 23. Februar 1946 fol-
gendes:

„Was würde mein alter Freund August Wisbeck
in der Emigration angefangen haben? Er war einige
Jahre älter als ich, ein früherer Kavallerieoffizier,
der während des letzten Weltkrieges Major in der
türkischen Armee geworden war. Nach einigen
Ausflügen in die malerische Welt des frühen Films
hatte er sich mit seiner viel zu geringen Pension in
München niedergelassen, entsprechend seiner wirk-
lichen Berufung, nämlich der, ein Schwabinger zu
werden, und zwar ein Bohemien der erfreulichsten
Art. Er hatte einen wunderbaren Sinn für grotesken
Humor und war ein herrlicher Geschichtenerzähler,
besonders über einem Glas Wein, von dem er mehr
zu sich nahm, als für sein wirtschaftliches und auch
gesundheitliches Wohlergehen zuträglich war. Nur,
wenn er von bitterer Geldnot getrieben wurde,
konnte er sich dazu zwingen, seine Geschichten nie-
derzuschreiben, die dann sofort in der „fugend"
oder anderen Journalen abgedruckt wurden.
Ah ich von der Redaktion der „Jugend" zu der des
„Simplizissimus" hinüberwechselte, wurde auch un-
sere Zusammenarbeit hinübergenommen, und dies
sicherte Wisbeck endlich einmal eine Art regelmäßi-
gen Einkommens, was er bitter benötigte. Wenn er
nun auch nicht gerade aktives Interesse an der Poli-
tik nahm, so verabscheute er dennoch die Nazis aus
ganzem Herzen samt ihren Werken. Ich weiß nicht,
wie er es überhaupt fertig brachte, in der Atmo-
sphäre des Dritten Reiches zu leben. Aber seine
wunderbare Lebenskraft hatte schon begonnen ab-
zunehmen. Nicht lange bevor ich ihn verließ, erlitt
er einen Nervenzusammenbruch, von dem er sich
nur langsam erholte. Er hatte nicht die geringste
Gelegenheit, sich das Leben in einem anderen Lande
zu ermöglichen, denn er besaß auch noch einen
zwanzigjährigen Sohn. So sah er denn keinen an-
deren Ausweg, als durchzuhalten und allem Nazi-
tum fern zu bleiben. Aber es war zu viel für ihn.
Einige Jahre später, in Frankreich, erreichte mich
die Nachricht von seinem Ableben. Durch einen
Zufall erfuhr ich, auf welche Weise er umkam. Es
scheint, als ob sich in ihm ein schwerer Fall von
Verfolgungswahn entwickelt hätte, der durch Tat-
sachen allerdings gerechtfertigt sein konnte. Denn
für 'die Nazis war sogar eine verschwiegene Geg-
nerschaft ein Verbrechen, und ich zweifle, ob Wis-
beck Schweigen bewahren konnte. Endlich mußte er
in eine Anstalt verbracht werden, die letzte Zu-
fluchtsstätte eines vernünftigen und anständigen
Menschen in einer Welt des Irrsinns. Aber er
wählte eine Zuflucht, die noch sicherer war, und
verübte Selbstmord."

Wir haben unseren Mitarbeiter August Wisbeck
über seinen Tod befragt, und er erklärt, daß es ihn
herzlich freut, seinem Freund Schönberner für den
Nachruf noch aus dem Diesseits seinen Dank über
den Ozean senden zu können.
So haben denn alle drei, Heine, Schönberner und
Wisbeck das Tausendjährige Reich überlebt, und
wenn sie während der Drucklegung dieser Num-
mer nicht gestorben sind, leben sie heute noch.

DER SIMPL

TOTE STEHEN AUF

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