6. m. graf: DES PUDELS KERN
Lange Zeit bevor er amtlicherweise die Wirtshaus-Kon-
zession bekam, betrieb unser Nachbar, der Windl, einen
Flaschenbier-Handel. Ins Windlhaus kam ab und zu der
eine oder andere Hausierer. Der Gendarm von Starnberg
kaufte sich an heißen Sommertagen manchmal eine Flasche
Bier, und öfter machten auch zwei oder drei unbekannte,
lärmend auftretende, sogenannte „christliche" Viehhändler
dort Besuch, die sich offenbar mit der Windlin ausgezeich-
net verstanden. Nicht selten blieben sie über Nacht,
soffen und krakeelten und kamen erst am anderen Tage
in die umliegenden Bauernhäuser, um einen Handel ab-
zumachen. Die großen Bauern aber handelten mit ihrem
Vieh untereinander; ihre „Menzkühe" und die Schlacht-
ochsen bekam der Klostermeier von Aufkirchen, und die
kleinen Bauern und Häusler waren Kunden vom „Jud
Schlesinger". Den kannten sie seit langen Jahren, keiner
von ihnen war jemals durch ihn zu kurz gekommen. Der
Schlesinger war reell, sie achteten ihn wie ihresgleichen;
viele schuldeten ihm Geld, aber er drängte nie. Und er
war ein Mensch, der sein Geschäft und die Bauern ver-
stand. Die Bezeichnung „Jud Schlesinger" hatte nicht im
geringsten etwas Herabminderndes, sie war lediglich eine
Berufsbezeichnung. Der Schlesinger war weitherum sehr
beliebt, und man zollte ihm den größten Respekt.
Aber diese neuen Händler — mein Gott!
Statt in den Stall kamen sie in die guten Stuben getram-
pelt und hielten die Leute von der Arbeit ab. Ihre freche
Ueberheblichkeit, ihre rohen Zoten und zudringlich ob-
szönen Scherze, die sie mit den Mägden zu machen ver-
suchten, stießen jedermann ab. Die Bauern haßten und
verachteten sie. Das brachte die konkurrenzneidigen
Händler gegen den Schlesinger auf. Sie verdächtigten ihn
und setzten seine Kühe herab.
„Der Saujud, der windige! . . Der Halsabschneider!"
plärrten sie: „Wartet nur ab, einmal schnürt er euch
schon die Luft ab!"
Das war zuviel.
„Was? . . Jud? . . Der Schlesinger ist ein reeller Mensch,
basta!" schrie der Bauer: „Und was seid's ihr? Un-
gehobelte Sautreiber! Bleibt's nur beim Windl! Vielleicht
kauft euch der was ab!"
Enttäuscht und ernüchtert kamen die Händler zum Windl
zurück. Beim Hereinbruch der Nacht fuhren sie zum
Dorf hinaus. ■
Es vergingen Wochen. Das Frühjahr stand klar am Him-
mel. An einem Nachmittag, als es schon zu dämmern
begann, fuhr der Schlesinger vor unsere Stalltüre. Damals
ließ unser Vater gerade das Haus vergrößern: Der Schle-
singer staunte, wie weit der Umbau schon gediehen war.
„Na, Bäck, du machst dich ja jetzt ganz groß, was?"
rief er. „Jaja, da heißt's wiederum rackern, bis ich das
herausbring', was ich da hineinsteck'", meinte mein Vater
und murmelte etwas verlegen: „Geh, Schlesinger, du siehst
ja, die Bauleute wollen ihr Geld. Ich kann dir diesmal
bloß die Hälfte von der ausgemachten vierteljährlichen
Abzahlung geben." Er sah dem Händler unsicher ins
Gesicht.
„Die Hälfte? Ja, das ist ja großartig! Ich hab' gemeint,
ich krieg' nicht einmal ein Viertel!" tat der Schlesinger
erstaunt und nahm eine Prise aus der Tabaksdose, die
ihm mein Vater hinhielt.
„Wart"', sagte der Vater wieder und überlegte, „oder
willst nicht hereinkommen, dann geb' ich dir das Geld?"
Aber der Schlesinger wartete. Er ging nie in ein Haus.
Der Stall und nichts anderes war sein Bertif.sfcid.
„Adjes, Bäck! Und viel Glück zum Bau!" rief er, als
er sich auf sein leichtgefedertes Wägelchen schwang, und
fuhr rasch davon. —
Am anderen Tage brachte die alte Klostermaier-Zenzl, die
stets das Fleisch von Aufkirchen in die umliegenden Dör-
fer trug, die Nachricht, daß man den Schlesinger im Holz
hinter Aufhausen erstochen aufgefunden habe.
„Er ist ganz blutig auf der Straße gelegen . . . Zwei oder
drei Stiche hat er. . . Kein Mensch hätte es gemerkt,
wenn das Roß mit dem leeren Wagerl nicht zum Heim-
rath gekommen wäre."
„Und wer ihn erstochen hat, das weiß man nicht?" fragte
mein Vater benommen. Wir alle starrten wie entgeistert
auf die Zenzl.
„Vorläufig liegt er bei uns im Feuerwehrhaus . . . Jetzt
wird von Wolfratshausen die Untersuchungskommission
schon da sein", schloß die Zenzl und legte das bestellte
Fleisch auf die escherne Tischplatte. —
Abgesehen von dem Aufsehen, das der Mord weit herum
erregte •—, die kleinen Bauern und Häusler im ganzen
Pfarrgau trauerten genau so aufrichtig um den toten
Schlesinger wie unser Vater und wir alle. In diese Trauer
aber mischte sich auch eine bange, unsichere Besorgnis,
denn die meisten sagten sich: „Jetzt werden wohl die
Erben das Geld schnell eintreiben." Auch unseren Vater
In den Kriegsjahren haben wir uns aus den Augen ver-
loren. Seit mehreren Jahren haben wir uns nicht mehr
gesehen. Damals war er bei einem Rechtsanwalt das
Mädchen für alles. Überall war er bekannt wegen seines
korrekten Äußeren. Das Haar tadellos gekämmt, peinlich
glatt rasiert, den Anzug immer ausgebürstet und frisch
gebügelt, die Schuhe auf Hochglänz, das war mein Freund
Paul.
Vorgestern trafen wir uns wieder. Ich erkannte ihn nicht
mehr, aber er behauptete, er sei es, und ich glaubte es; Paul
hat nämlich noch nie gelogen. Das Gesicht war eingefallen
und von langen Stoppeln besetzt. Die Haare struppig, die
Hände schmutzig die Schuhe grau, seit Wochen nicht mehr
geputzt, der Mantel verknittert und ohne Knöpfe, so stand
er vor mir. Ich war sprachlos. Vor mir stand ein Wrack.
Und er erzählte: „Mein Chef hat mich entlassen, o nein,
ich war nicht dabei ... bin ganz unbelastet, aber er konnte
mich so nicht mehr brauchen. Ich bin mir selbst ein Greuel,
du weißt es, du kennst mich. Aber zum andern taugte ich
nicht.
Mit dem Kamm begann es. Wir hatten zusammen einen,
meine Frau und ich. Vor neun Monaten zerbrach er, die
zwei Teile verloren die Zähne. Ich ging zum Friseur, einen
neuen zu kaufen. .Kämme haben wir nicht zum Verkauf,
leider, man bekommt sie so schwer—!' er kniff ein Auge
zusammen — ,Sie verstehen!' Ich verstand und ging.
,Du mußt nun jeden Morgen zum Friseur gehen, Paul',
sagte meine Frau. Es war ein Donnerstag. Es ging alles
gut. Am Sonntag blieb ich im Bett, der liebe Gott wird es
mir verzeihen. Dann kam das Verhängnis. Jeden Dienstag
hat mein Friseur Ruhetag. Am Dienstag haben alle Fri-
seure ihren Ruhetag. Ich lief von einem zum andern und
kam zu spät und unfrisiert ins Büro. Mein Rechtsanwalt
zog die Augenbrauen hoch und sagte nichts.
Kurze Zeit später zeigte mir meine Frau die leere Schuh-
kremschachtel. ,Du mußt neue kaufen, Pauline!' — .Wo-
mit?' — Ich schaute sie verständnislos an und gab ihr
eine Mark. Sie lächelte traurig und nahm sie nicht. Ich
verstand und zog die Schuhe ungeputzt an.
Meine Anzüge wurden mir zu weit. Du mußt wissen, ich
lebe auf Marken. Ja, mich wundert es auch, daß ich noch
lebe. Ich ging zum Schneider. Nein, ohne Tabak kann er
nicht arbeiten, leider. Und es war gut so, alle vier Wochen
kann ich mir meine Kleidung ja doch nicht ändern lassen.
Dann ging die Rasierseifc zu Ende. Aufgerufen wurde
keine mehr. Die paar Fabriken können mit den wenigen
Rohstoffen toch nicht beide Kreise beliefern, Schwarzhänd-
lcr und Verbraucher. Warum soll man den Verteilungs-
plan ändern? Bringen die Schwarzhändler die Ware nicht
ohnehin an den Mann und wird nicht gleichzeitig die Kauf-
kraft abgeschöpft? Ein genialer Plan und ganz einfach für
die verantwortlichen Stellen. Nun ging ich wegen des Ra-
sierens zum Friseur. .Ich kann Sie nur rasieren, wenn Sie
Ihre eigene Seife mitbringen, ich bedaure, die Zeiten sind
schlecht.' — .Wenn ich nicht irre' , werfe ich schüchtern
ein, ,hat der Metzgermeister Huber noch nie . . .' — ,Das
ist etwas ganz anderes, der brachte mir ein paar Pfund
Fett, zum Seifensieden natürlich, Sie verstehen.' — Ich
verstand und ging. Ich verstand eigentlich nicht, wie der
bedrückte dieser Gedanke sehr. Denn jetzt, wo das Ge-
schäft fast nichts einbrachte und das Baugeld knapp ge-
worden war, bedeuteten fünfzig Mark eine riskante
Summe.
Aber merkwürdig — die Polizei forschte, zum Windl
kamen einmal zwei Gendarmen und blieben verdächtig
lange, in den Nachbarhäusern und bei uns fragten sie
herum und erfuhren nichts; es hieß auch einmal, die
„christlichen" Viehhändler seien verhaftet worden —
merkwürdig, die Wochen strichen hin, aus dem April
wurde der Mai, indessen von irgendeinem Schlesingerschen
Erben hörte man nichts. Es stellte sich schließlich heraus,
daß der Viehhändler Junggeselle gewesen war und nur
noch einen Bruder im fernen Amerika gehabt habe, der
aber so gut wie verschollen sei. Schlesingers Vermögen
fiel der jüdischen Gemeinde zu, aber niemand trieb die
Schulden ein. Die Bedrückung wich, das pietätvolle An-
denken an den „Jud Schlesinger" lebte in jedem Haus.
Der Tote wurde das Beispiel eines wahrhaft ehrlichen,
guten Mannes.
Freilich — wie das nun schon einmal zu gehen pflegt,
wenn aus einer allgemein bedrohlichen Sache auf einmal
ein unverhoffter Vorteil für jeden einzelnen entspringt —
ganz im geheimen waren die Schlesingerschen Schuldner
auch wieder zufrieden mit dem Mord — aber keiner
sagte das jemals ..,
andere soviel Fett verrasicren konnte, ich dachte an die
Zuteilung und rechnete, während die Stoppeln wuchsen.
Eines Tages sagte mein Chef: ,Ich verliere Sie nur un-
gern, aber so können Sie nicht mehr Dienst tun. Ich be-
urlaube Sie, bis wieder bessere Zeiten sind.' Ich nahm
Abschied von meinem Büro, ich glaube für immer.
Seitdem gehe ich zum Stempeln, wahrscheinlich auch für
immer. Die^eihzigc Arbeit, die ich leisten kann bei dieser
Kalorienmcnge. Wirklich nicht anstrengend, doch auch
nicht ertragreich. Aber man braucht ja fast kein Geld,
wenn man von den Marken lebt, man lebt ja fast von der
Luft.
Vorgestern riß der letzte Knopf an meinem Mantel. Es
war in der Straßenbahn. Die drei ersten verlor ich. Meine
Frau konnte mir keine neuen einnähen, es gibt ja keine . ..
zu kaufen. Den letzten habe ich gerettet, hier ist er. Da-
heim übergab ich ihn Pauline und strahlte —•--sie
weinte. ?— ,Wir haben keinen Faden mehr, Paul.' Dann
muß ich halt ohne Knöpfe gehen. — ,Ja. Paul, es sieht
sehr flott aus und .... modern.'
Den Knopf hebe ich mir auf, vielleicht gibt es doch ein-
mal etwas Faden und immer noch keine Knöpfe, wer weiß?
Wenn nicht in einer Woche, einem Monat oder Jahr, viel-
leicht, wenn unsere Kinder groß sind, wer weiß?"----
Mir tat mein Freund Paul leid. Ich versuchte zu scherzen:
„Paul, du bist ein Mensch der Gegenwart, der Modernste
unter uns."
Er schüttelte den Kopf: „Nein, der Mensch der Gegen-
wart, der moderne, betreibt Schwarzhandel." Ich blickte
auf meine blanken Schuhe und fuhr mit der Hand über
mein rasiertes Gesicht. Paul nickte mir traurig zu und
ging. Über die Schulter sagte er noch: „Du brauchst Dich
nicht zu schämen, du bist so schlimm noch nicht, du
rauchst deutschen Tabak!" J. Schroeder
DAS NEUE BUCH
Horst Lommer: Das Tausendjährige Reich.
Aufbau-Verlag. Berlin 1946.
In der Reihe sachlicher Anklageschriften wider das Gaunertum
des „Tausendjährigen Reiches" hier einmal ein unterhaltsames
Brevier, das in achtundvierzig locker gefügten Gedichten die
ganze Dummheit und Verlogenheit der braunen Machthaber ein-
fängt und dem Gelächter preisgibt. Das Büchlein, mit beißenden
Karikaturen von Eivin Kutz bebildert, erbringt wiederum den
Beweis, wie das scharf geschliffene Wort tödlicher zu wirken
vermag, denn ein Keulenschlag. Erbarmungslos entkleidet die
Satire das „Heldentum" der Hakenkreuzritter seines gleißenden
Mäntelchens und hängt dessen zerfaserte Fetzen an eine Vogel-
scheuche. Vor ihrer Lächerlichkeit gibt es kein Entweichen mehr
in das „Heroische". In manchem der Gedichte rindet sich ein
Vers, dem man einen Fortbestand als geflügeltes Wort wünschen
möchte, zum Heil und Nutzen jener, die noch immer braun sehen
und durch das köstliche Büchlein von ihrem Leiden befreit
werden können. A. W.
„DER SiMPL" erscheint vorläufig 14-täglich
Verlag: „DER SIMPL" (Freitag-Verlag), München 23, Werncck-
••.traße 15a — Verantwortlicher Hauptschriftleiter: Willi Ernst
Freitag, Stellv.: J. Gutbrod — Schriftleitung: München 23,
Werneckstraßc 15a, Fernruf: 36 20 72 — Sprechstunden: Diens-
tag, Donnerstag und Samstag jeweils von 9 bis 12 Uhr —
Druck: Süddeutscher Verlag, München 2, Sendlinger Straße 80 —
Copyright by Freitag-Verlag 1946 — Published under Military
Government Information Control License No. US-E-148.
MEIN FREUND PAUL
122
Lange Zeit bevor er amtlicherweise die Wirtshaus-Kon-
zession bekam, betrieb unser Nachbar, der Windl, einen
Flaschenbier-Handel. Ins Windlhaus kam ab und zu der
eine oder andere Hausierer. Der Gendarm von Starnberg
kaufte sich an heißen Sommertagen manchmal eine Flasche
Bier, und öfter machten auch zwei oder drei unbekannte,
lärmend auftretende, sogenannte „christliche" Viehhändler
dort Besuch, die sich offenbar mit der Windlin ausgezeich-
net verstanden. Nicht selten blieben sie über Nacht,
soffen und krakeelten und kamen erst am anderen Tage
in die umliegenden Bauernhäuser, um einen Handel ab-
zumachen. Die großen Bauern aber handelten mit ihrem
Vieh untereinander; ihre „Menzkühe" und die Schlacht-
ochsen bekam der Klostermeier von Aufkirchen, und die
kleinen Bauern und Häusler waren Kunden vom „Jud
Schlesinger". Den kannten sie seit langen Jahren, keiner
von ihnen war jemals durch ihn zu kurz gekommen. Der
Schlesinger war reell, sie achteten ihn wie ihresgleichen;
viele schuldeten ihm Geld, aber er drängte nie. Und er
war ein Mensch, der sein Geschäft und die Bauern ver-
stand. Die Bezeichnung „Jud Schlesinger" hatte nicht im
geringsten etwas Herabminderndes, sie war lediglich eine
Berufsbezeichnung. Der Schlesinger war weitherum sehr
beliebt, und man zollte ihm den größten Respekt.
Aber diese neuen Händler — mein Gott!
Statt in den Stall kamen sie in die guten Stuben getram-
pelt und hielten die Leute von der Arbeit ab. Ihre freche
Ueberheblichkeit, ihre rohen Zoten und zudringlich ob-
szönen Scherze, die sie mit den Mägden zu machen ver-
suchten, stießen jedermann ab. Die Bauern haßten und
verachteten sie. Das brachte die konkurrenzneidigen
Händler gegen den Schlesinger auf. Sie verdächtigten ihn
und setzten seine Kühe herab.
„Der Saujud, der windige! . . Der Halsabschneider!"
plärrten sie: „Wartet nur ab, einmal schnürt er euch
schon die Luft ab!"
Das war zuviel.
„Was? . . Jud? . . Der Schlesinger ist ein reeller Mensch,
basta!" schrie der Bauer: „Und was seid's ihr? Un-
gehobelte Sautreiber! Bleibt's nur beim Windl! Vielleicht
kauft euch der was ab!"
Enttäuscht und ernüchtert kamen die Händler zum Windl
zurück. Beim Hereinbruch der Nacht fuhren sie zum
Dorf hinaus. ■
Es vergingen Wochen. Das Frühjahr stand klar am Him-
mel. An einem Nachmittag, als es schon zu dämmern
begann, fuhr der Schlesinger vor unsere Stalltüre. Damals
ließ unser Vater gerade das Haus vergrößern: Der Schle-
singer staunte, wie weit der Umbau schon gediehen war.
„Na, Bäck, du machst dich ja jetzt ganz groß, was?"
rief er. „Jaja, da heißt's wiederum rackern, bis ich das
herausbring', was ich da hineinsteck'", meinte mein Vater
und murmelte etwas verlegen: „Geh, Schlesinger, du siehst
ja, die Bauleute wollen ihr Geld. Ich kann dir diesmal
bloß die Hälfte von der ausgemachten vierteljährlichen
Abzahlung geben." Er sah dem Händler unsicher ins
Gesicht.
„Die Hälfte? Ja, das ist ja großartig! Ich hab' gemeint,
ich krieg' nicht einmal ein Viertel!" tat der Schlesinger
erstaunt und nahm eine Prise aus der Tabaksdose, die
ihm mein Vater hinhielt.
„Wart"', sagte der Vater wieder und überlegte, „oder
willst nicht hereinkommen, dann geb' ich dir das Geld?"
Aber der Schlesinger wartete. Er ging nie in ein Haus.
Der Stall und nichts anderes war sein Bertif.sfcid.
„Adjes, Bäck! Und viel Glück zum Bau!" rief er, als
er sich auf sein leichtgefedertes Wägelchen schwang, und
fuhr rasch davon. —
Am anderen Tage brachte die alte Klostermaier-Zenzl, die
stets das Fleisch von Aufkirchen in die umliegenden Dör-
fer trug, die Nachricht, daß man den Schlesinger im Holz
hinter Aufhausen erstochen aufgefunden habe.
„Er ist ganz blutig auf der Straße gelegen . . . Zwei oder
drei Stiche hat er. . . Kein Mensch hätte es gemerkt,
wenn das Roß mit dem leeren Wagerl nicht zum Heim-
rath gekommen wäre."
„Und wer ihn erstochen hat, das weiß man nicht?" fragte
mein Vater benommen. Wir alle starrten wie entgeistert
auf die Zenzl.
„Vorläufig liegt er bei uns im Feuerwehrhaus . . . Jetzt
wird von Wolfratshausen die Untersuchungskommission
schon da sein", schloß die Zenzl und legte das bestellte
Fleisch auf die escherne Tischplatte. —
Abgesehen von dem Aufsehen, das der Mord weit herum
erregte •—, die kleinen Bauern und Häusler im ganzen
Pfarrgau trauerten genau so aufrichtig um den toten
Schlesinger wie unser Vater und wir alle. In diese Trauer
aber mischte sich auch eine bange, unsichere Besorgnis,
denn die meisten sagten sich: „Jetzt werden wohl die
Erben das Geld schnell eintreiben." Auch unseren Vater
In den Kriegsjahren haben wir uns aus den Augen ver-
loren. Seit mehreren Jahren haben wir uns nicht mehr
gesehen. Damals war er bei einem Rechtsanwalt das
Mädchen für alles. Überall war er bekannt wegen seines
korrekten Äußeren. Das Haar tadellos gekämmt, peinlich
glatt rasiert, den Anzug immer ausgebürstet und frisch
gebügelt, die Schuhe auf Hochglänz, das war mein Freund
Paul.
Vorgestern trafen wir uns wieder. Ich erkannte ihn nicht
mehr, aber er behauptete, er sei es, und ich glaubte es; Paul
hat nämlich noch nie gelogen. Das Gesicht war eingefallen
und von langen Stoppeln besetzt. Die Haare struppig, die
Hände schmutzig die Schuhe grau, seit Wochen nicht mehr
geputzt, der Mantel verknittert und ohne Knöpfe, so stand
er vor mir. Ich war sprachlos. Vor mir stand ein Wrack.
Und er erzählte: „Mein Chef hat mich entlassen, o nein,
ich war nicht dabei ... bin ganz unbelastet, aber er konnte
mich so nicht mehr brauchen. Ich bin mir selbst ein Greuel,
du weißt es, du kennst mich. Aber zum andern taugte ich
nicht.
Mit dem Kamm begann es. Wir hatten zusammen einen,
meine Frau und ich. Vor neun Monaten zerbrach er, die
zwei Teile verloren die Zähne. Ich ging zum Friseur, einen
neuen zu kaufen. .Kämme haben wir nicht zum Verkauf,
leider, man bekommt sie so schwer—!' er kniff ein Auge
zusammen — ,Sie verstehen!' Ich verstand und ging.
,Du mußt nun jeden Morgen zum Friseur gehen, Paul',
sagte meine Frau. Es war ein Donnerstag. Es ging alles
gut. Am Sonntag blieb ich im Bett, der liebe Gott wird es
mir verzeihen. Dann kam das Verhängnis. Jeden Dienstag
hat mein Friseur Ruhetag. Am Dienstag haben alle Fri-
seure ihren Ruhetag. Ich lief von einem zum andern und
kam zu spät und unfrisiert ins Büro. Mein Rechtsanwalt
zog die Augenbrauen hoch und sagte nichts.
Kurze Zeit später zeigte mir meine Frau die leere Schuh-
kremschachtel. ,Du mußt neue kaufen, Pauline!' — .Wo-
mit?' — Ich schaute sie verständnislos an und gab ihr
eine Mark. Sie lächelte traurig und nahm sie nicht. Ich
verstand und zog die Schuhe ungeputzt an.
Meine Anzüge wurden mir zu weit. Du mußt wissen, ich
lebe auf Marken. Ja, mich wundert es auch, daß ich noch
lebe. Ich ging zum Schneider. Nein, ohne Tabak kann er
nicht arbeiten, leider. Und es war gut so, alle vier Wochen
kann ich mir meine Kleidung ja doch nicht ändern lassen.
Dann ging die Rasierseifc zu Ende. Aufgerufen wurde
keine mehr. Die paar Fabriken können mit den wenigen
Rohstoffen toch nicht beide Kreise beliefern, Schwarzhänd-
lcr und Verbraucher. Warum soll man den Verteilungs-
plan ändern? Bringen die Schwarzhändler die Ware nicht
ohnehin an den Mann und wird nicht gleichzeitig die Kauf-
kraft abgeschöpft? Ein genialer Plan und ganz einfach für
die verantwortlichen Stellen. Nun ging ich wegen des Ra-
sierens zum Friseur. .Ich kann Sie nur rasieren, wenn Sie
Ihre eigene Seife mitbringen, ich bedaure, die Zeiten sind
schlecht.' — .Wenn ich nicht irre' , werfe ich schüchtern
ein, ,hat der Metzgermeister Huber noch nie . . .' — ,Das
ist etwas ganz anderes, der brachte mir ein paar Pfund
Fett, zum Seifensieden natürlich, Sie verstehen.' — Ich
verstand und ging. Ich verstand eigentlich nicht, wie der
bedrückte dieser Gedanke sehr. Denn jetzt, wo das Ge-
schäft fast nichts einbrachte und das Baugeld knapp ge-
worden war, bedeuteten fünfzig Mark eine riskante
Summe.
Aber merkwürdig — die Polizei forschte, zum Windl
kamen einmal zwei Gendarmen und blieben verdächtig
lange, in den Nachbarhäusern und bei uns fragten sie
herum und erfuhren nichts; es hieß auch einmal, die
„christlichen" Viehhändler seien verhaftet worden —
merkwürdig, die Wochen strichen hin, aus dem April
wurde der Mai, indessen von irgendeinem Schlesingerschen
Erben hörte man nichts. Es stellte sich schließlich heraus,
daß der Viehhändler Junggeselle gewesen war und nur
noch einen Bruder im fernen Amerika gehabt habe, der
aber so gut wie verschollen sei. Schlesingers Vermögen
fiel der jüdischen Gemeinde zu, aber niemand trieb die
Schulden ein. Die Bedrückung wich, das pietätvolle An-
denken an den „Jud Schlesinger" lebte in jedem Haus.
Der Tote wurde das Beispiel eines wahrhaft ehrlichen,
guten Mannes.
Freilich — wie das nun schon einmal zu gehen pflegt,
wenn aus einer allgemein bedrohlichen Sache auf einmal
ein unverhoffter Vorteil für jeden einzelnen entspringt —
ganz im geheimen waren die Schlesingerschen Schuldner
auch wieder zufrieden mit dem Mord — aber keiner
sagte das jemals ..,
andere soviel Fett verrasicren konnte, ich dachte an die
Zuteilung und rechnete, während die Stoppeln wuchsen.
Eines Tages sagte mein Chef: ,Ich verliere Sie nur un-
gern, aber so können Sie nicht mehr Dienst tun. Ich be-
urlaube Sie, bis wieder bessere Zeiten sind.' Ich nahm
Abschied von meinem Büro, ich glaube für immer.
Seitdem gehe ich zum Stempeln, wahrscheinlich auch für
immer. Die^eihzigc Arbeit, die ich leisten kann bei dieser
Kalorienmcnge. Wirklich nicht anstrengend, doch auch
nicht ertragreich. Aber man braucht ja fast kein Geld,
wenn man von den Marken lebt, man lebt ja fast von der
Luft.
Vorgestern riß der letzte Knopf an meinem Mantel. Es
war in der Straßenbahn. Die drei ersten verlor ich. Meine
Frau konnte mir keine neuen einnähen, es gibt ja keine . ..
zu kaufen. Den letzten habe ich gerettet, hier ist er. Da-
heim übergab ich ihn Pauline und strahlte —•--sie
weinte. ?— ,Wir haben keinen Faden mehr, Paul.' Dann
muß ich halt ohne Knöpfe gehen. — ,Ja. Paul, es sieht
sehr flott aus und .... modern.'
Den Knopf hebe ich mir auf, vielleicht gibt es doch ein-
mal etwas Faden und immer noch keine Knöpfe, wer weiß?
Wenn nicht in einer Woche, einem Monat oder Jahr, viel-
leicht, wenn unsere Kinder groß sind, wer weiß?"----
Mir tat mein Freund Paul leid. Ich versuchte zu scherzen:
„Paul, du bist ein Mensch der Gegenwart, der Modernste
unter uns."
Er schüttelte den Kopf: „Nein, der Mensch der Gegen-
wart, der moderne, betreibt Schwarzhandel." Ich blickte
auf meine blanken Schuhe und fuhr mit der Hand über
mein rasiertes Gesicht. Paul nickte mir traurig zu und
ging. Über die Schulter sagte er noch: „Du brauchst Dich
nicht zu schämen, du bist so schlimm noch nicht, du
rauchst deutschen Tabak!" J. Schroeder
DAS NEUE BUCH
Horst Lommer: Das Tausendjährige Reich.
Aufbau-Verlag. Berlin 1946.
In der Reihe sachlicher Anklageschriften wider das Gaunertum
des „Tausendjährigen Reiches" hier einmal ein unterhaltsames
Brevier, das in achtundvierzig locker gefügten Gedichten die
ganze Dummheit und Verlogenheit der braunen Machthaber ein-
fängt und dem Gelächter preisgibt. Das Büchlein, mit beißenden
Karikaturen von Eivin Kutz bebildert, erbringt wiederum den
Beweis, wie das scharf geschliffene Wort tödlicher zu wirken
vermag, denn ein Keulenschlag. Erbarmungslos entkleidet die
Satire das „Heldentum" der Hakenkreuzritter seines gleißenden
Mäntelchens und hängt dessen zerfaserte Fetzen an eine Vogel-
scheuche. Vor ihrer Lächerlichkeit gibt es kein Entweichen mehr
in das „Heroische". In manchem der Gedichte rindet sich ein
Vers, dem man einen Fortbestand als geflügeltes Wort wünschen
möchte, zum Heil und Nutzen jener, die noch immer braun sehen
und durch das köstliche Büchlein von ihrem Leiden befreit
werden können. A. W.
„DER SiMPL" erscheint vorläufig 14-täglich
Verlag: „DER SIMPL" (Freitag-Verlag), München 23, Werncck-
••.traße 15a — Verantwortlicher Hauptschriftleiter: Willi Ernst
Freitag, Stellv.: J. Gutbrod — Schriftleitung: München 23,
Werneckstraßc 15a, Fernruf: 36 20 72 — Sprechstunden: Diens-
tag, Donnerstag und Samstag jeweils von 9 bis 12 Uhr —
Druck: Süddeutscher Verlag, München 2, Sendlinger Straße 80 —
Copyright by Freitag-Verlag 1946 — Published under Military
Government Information Control License No. US-E-148.
MEIN FREUND PAUL
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Vatersorgen"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
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Ausstellung
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Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
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Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 10, S. 122.
Beziehungen
Erschließung
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CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg