FRÄULEIN SCHLOSSERS WANDLUNG
DIE GESCHICHTE EINER WEIHNACHTSEINLADUNG
Es war für Herrn Cassimir nicht leicht gewesen, Fräulein
Schlosser zu bewegen, mit ihm allein in seinem Zimmer
im „Familienheim Ketteier" Weihnachten zu feiern. Es
wohnten außer ihm, so erzählte er, nur noch zwei alte
Damen und ein ihm selbst kaum bekannter Herr Zettritz
in dieser von einer Siebzigjährigen geführten Pension,
und den Heiligen Abend verbringe jeder für sich. Fräu-
lein Schlosser versprach schließlich, Punkt acht Uhr zu
kommen, wogegen Herr Cassimir den Schwur ablegte, sie
Punkt zehn Uhr nach Hause zu bringen.
Herr Cassimir hatte durchaus vor, diesen Schwur zu
halten. Er war ein freundlicher, philosophischer und etwas
müder Mann von 42 Jahren, der auf Abteilung VII des
gleichen Unternehmens tätig war, in dessen Abteilung III
Fräulein Schlosser arbeitete.
Fräulein Schlosser, Anfang 30, blond, groß und von
schlankhüftiger Ueppigkeit, gefiel ihm. Sie gefiel den
meisten Männern, aber die meisten Männer hatten keine
ernsten Absichten und mit unernsten Absichten traute
man sich nicht recht an Fräulein Schlosser heran. Auch
Herr Cassimir hatte keine ernsten Absichten, er hatte
sozusagen überhaupt keine Absichten und daher den
Mut, sich dahintreiben zu lassen, auch wenn
es ihn geradewegs zu Fräulein Schlosser
trieb. Das war angenehm und schien un-
gefährlich. Gefährliche Abenteuer nämlich
lockten ihn nicht, überhaupt keine Aben-
teuer. Er erinnerte sich mit Schaudern, daß
er vor 20 Jahren allabendlich nach ermüden-
dem Dienst noch anderthalb Stunden ge-
radelt war, um ' mit der Geliebten eine
halbe Stunde zusammen zu sein. Dann wie-
der anderthalb Stunden zurück. Bei jedem
Wetter. Vor zehn Jahren noch war er eines
anderen Mädchens wegen vier- oder fünf-
mal in der Woche ausgegangen, ganz gegen
seine eigentliche Neigung zur Beschaulich-
keit. Nur weil das Mädchen so einen ewigen
Hunger nach Erleben und einen so sehn-
süchtigen Blick gehabt hatte. Dessentwegen
hatte er sogar getanzt, was er haßte. Jetzt
konnte er völlig ungerührt in sehnsüchtige
Augen sehen und dabei mit ungeheurer
Ruhe an den Polsterstuhl seines Zimmers
denken, in dem er Abend für Abend lesend,
schreibend oder Musik hörend versank.
Jahre des Krieges hatte er sich nach sol-
chem Versinken gesehnt. Fräulein Schlosser, ^ ^
so fand er, ließ sich bequem in diesem
abendlichen Programm unterbringen, ohne
es zu stören. Darum lag ihm daran, mit Fräulein Schlos-
ser zusammen zu sein. Sie hatte keine sehnsüchtigen
Augen, keine tanzwütigen Füße, keinen Hunger nach
Erleben, sondern wie er die Freude an der Beschaulich-
keit, die zu einem bescheidenen, stillen Lebensgenuß
führt. Dachte er.
Am Tag vor Weihnachten kam unerwartet ein Paket auä
Amerika an Herrn Cassimir und brachte Dinge, die er
großmütig dem Heiligen Abend zu opfern gedachte. Fräu-
lein Schlosser erschien wirklich um acht: sie hatte rote,
ein wenig aufgeregte Backen, was ihr gut stand. Herr
Cassimir hatte seinem Zimmer durch einige wirkungsvoll
verteilte Tannenzweige ein weihnachtliches Aussehen
gegeben. Fräulein Schlosser schenkte ihm ein Lesezeichen
und einen Aschenbecher und empfing dafür ein Buch,
Schokolade und ein Stück Seife. Sie begann, an der
Schokolade knabbernd, gerade etwas zutraulich zu wer-
den, als es klopfte.
Ein Herr, etwas älter als Herr Cassimir, doch von
jugendlicher Frische, schob ein rundes Gesicht durch den
Türspalt. „Ah, Herr Zettritz — kommen Sie rein" sagte
Herr Cassimir großmütig, denn er kannte bis dahin
Herrn Zettritz nur flüchtig. Herr Zettritz war schon
herin. Fräulein Schlosser wurde befangen, weil sie von
einem Fremden bei Herrn Cassimir getroffen worden war.
Aber Herr Zettritz schien kein Fremder.
„Sagen Sie Cassimir", sagte er vertraulich, „Sie haben
wohl keine richtige Zigarette? Ich glaubte, ich hätte da
neulich unter der Post so 'ne Anmeldekarte eines Care-
pakets für Sie gesehen ..."
Er habe recht gesehen, gestand Herr Cassimir, und legte
eine Packung Chcsterfields auf den Tisch. Herr Zettritz
nahm ungezwungen Platz und Zigarette.
„Tja", sagte er sinnend, „komisches Weihnachten für
mich, wenn ich an die großartigen Feiern daheim in
Riga..." Er bezwang die aufsteigende Rührung und
nahm eine neue Zigarette. Fräulein Schlosser sagte mild,
jeder hätte heute sein Päckchen zu tragen. Herr Cassimir
hätte gewünscht, sie hätte was anderes gesagt, denn dieses
Päckchen ward seitens der Pensionsmutter unermüdlich
jedem bei jeder Beschwerde aufgeladen und voraus Herr
Zettritz bekam es täglich wie einen tröstlichen Stempel
aufgedrückt. Aber Herr Zettritz schien das nicht zu
stören.
,,'ne kleine Süßigkeit wäre jetzt herrlich — janz häärlich"
murmelte er verloren und Fräulein Schlosser sah Herrn
Cassimir bittend an. Er holte die Rosinen, die Drops
und die Schokoladestückchen des Paketes. Herr Zettritz
griff munter zu und bot Fräulein Schlosser an. Sie dankte
ihm herzlich. Herr Cassimir gönnte beiden beides. Herr
Zettritz blickte zur Decke.
„Weihnachten fließt bei uns zu Hause in Riga der Alko-
hol in Strömen — tja, Alkohol", träumte er laut. „Lag
leider dem Paket nicht bei", sagte Herr Cassimir zuvor-
kommend „Ob die alte Gianini nebenan noch Rum hat?"
fragte Herr Zettritz überlegend. Die alte Dame war die
Witwe eines Schnapsfabrikanten. Herr Cassimir zuckte
die Achseln. Herr Zettritz erhob sich in plötzlichem Ent-
schluß. „Bin gleich wieder da", versprach er und ver-
schwand.
„Ich hatte keineswegs die Absicht, mit ihm Weihnachten
zu feiern", sagte Herr Cassimir nachdenklich. „Aber er
KOHOLFREIER SILVESTERPUNSCH
ist doch so nett", sagte Fräulein Schlosser und in ihrer
Stimme lag ein zufriedenes Schnurren, das Herrn Cassi-
mir befremdete. Sie schien es zu genießen, aus dem
Alleinsein mit Herrn Cassimir in den Mittelpunkt eines
Herrenabends zu rücken. Ihre Augen hatten ein klein
wenig Sehnsüchtiges, aber Herr Cassimir wünschte das zu
übersehen Er stopfte Fräulein Schlosser rasch einige
Scheiben Ingwerbrot und einige Erdnüsse in den Mund.
Da kam Herr Zettritz schon zurück Um seine Nase stand
ein glänzender rötlicher Schein. Er trug eine große
Flasche Jamrikarum unterm Arm. Er müsse sein Elend
vertrinken hätte er der alten Schnapswitwe gesagt, die
ihn anbetete Er schenkte den Rum in Tassen, sich selber
pur. den beiden anderen mit Tee gemischt In seinem
Haus in Riga habe man ihn stets pur getrunken, aber
man müsse das gewöhnt sein. Dazu schob er eine Hand-
Familienleben
Väter, Mütter, Schwestern, Brüder
schließen, kommen sie mal über
's Kreuz, geschwind die Fenster zu!
Anders pflegt's die CSU:
Wenn der Hund mit dem Hammer
den Müller pix-t,
daß der Horl voller Ach mit dem
Pfeifferl quiekst,
ei, dann zeigt sich diese schöne
köstliche Familienszene
stolz dem ganzen Publikum!
Schöner wär es andersrum!
Weha
voll Süßigkeiten in den Mund. Man müsse Wedhnachts-
lieder haben, forderte er dann laut. „Ach ja, bitte", riet
auch Fräulein Schlosser und sah Herrn Cassimir schmel-
zend an. Herr Cassimir erschrak vor Herrn Zettritzens
Sangesfreude und vor Fräulein Schlossers Gemüt. Er
drehte den Radio an. Aber daraus krachten nur knallende
Fehlzündungen, da nebenan Frau Gianini ihren Heizofen
angesteckt hatte. „Wir singen selber", jubelte Herr
Zettritz und brüllte dröhnend „0 Tannenbaum, wie grün
sind deine Blätter!" Fräulein Schlosser fiel dünn mit der
zweiten Stimme ein und suchte Herrn Cassimirs Hand.
Er machte ihr das Finden schwer. Da griff sie hin-
gerissen nach der Rechten ihres Mitsängers. Herr Zettritz
schwang die Rumflasche und trank nun schon aus deren
offenem Hals. „Auf meinen Gütern bei Riga hätten Sie
Weihnachten erleben sollen", schrie er. Sein Besitz im
Baltischen wuchs stündlich. Wenig später erzählte er von
seinem Schloß, auf dem General Rennenkampf in Herrn
Zettritz' Jugend oft zu Gast gewesen wäre. Daraus
wurden dann bald einige Kindheitserinnerungen mit
etlichen Großfürsten. Er wuchs und seine eigene Größe
verwirrte ihn. Versehentlich erzählte er von Jagdpartien
mit dem Gauleiter des Ostlandes. Herr
Cassimir wurde aufmerksam. Fräulein
Schlosser hing an Herrn Zettritz' Lippen,
gleich ob sie sangen oder lärmten.
„Leben Sie hier in eigenen Möbeln. Cassi-
mir?" fragte Herr Zettritz. „Nur Schrank
und Couch gehören mir", sagte Herr Cassi-
mir. Da trat Herr Zettritz mit einem ge-
waltigen Sprung gegen die Schranktür und
brach ein Stück heraus.
„Sind Sie wahnsinnig", schrie Herr Cassi-
mir wütend, aber Herr Zettritz stammelte
„Verzeihen Sie mir, mein Freund — kön-
nen Sie ohne Feuer sein in Gegenwart
einer solchen Frau?" . .. und er glühte Fräu-
lein Schlosser an und warf das Holz der
Schranktür in den Ofen.
„Ich nähe Ihnen einen Vorhang", sagte
Fräulein Schlosser tröstend. „Es war wirk-
lich kühl hier." In ihren sehnsüchtigen
Augen klimperte Tanzmusik.
„Auf meinen Schlössern mußten überall
Kamine brennen, den ganzen Winter durch",
schrie Herr Zettritz, und da wurde es Herrn
Cassimir plötzlich zu dumm. Er sagte:
„Ich dachte. Sie lebten schon seit zwanzig
Jahren hier..."
Herr Zettritz sah ihn mitleidig an. „Ich
lebe seit 1918 in der freiwilligen Emigration, aber nicht
in lächerlichen Bürger-Pensionen", sagte er voll Ver-
achtung.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen" sagte Fräulein
Schlosser, „Hauptsache man bleibt frisch dabei."
„Ganz recht, prost schöne Frau" schrie Herr Zettritz.
Herr Cassimir sagte, er habe geschworen. Fräulein Schlos-
ser um zehn heimzubringen es sei nun schon nach Mit-
ternacht. Fräulein Schlosser war erschrocken und schlüpfte
eilends in ihren Mantel, der eine pelzgefütterte Kapuze
hatte. „Reizend hinreißend, wie eine Prinzessin", flü-
sterte Herr Zettritz.
„Ja wie die Großfürstin Anastasia Ihre Jugendgespielin",
sagte Herr Cassimir kalt. Er hatte genug. Er hatte in
Fräulein Schlossers sehnsüchtigen Augen die fürchterliche
Bedrohung seiner Ruhe gelesen Er war Herrn Zettritz
gar nicht so ganz undankbar Fräulein Schlosser sagte,
es sei reizend gewesen, Herr Zettritz sagte ein wenig
abwesend er glaube die Gianini hätte noch ein paar
Flaschen Herr Cassimir dachte zufrieden an seinen
Polsterstuhl Er verschob die Richtigstellungen all des
Gemeinten und Vermeintlichen auf später Auf morgen
oder aufs neue Jahr oder auf nie. Noch wußte er's nicht
und lieferte das verwandelte Fräulein Schlosser ein wenig
eilig an ihrer Haustür ab. E. Rudolf
LIEBER SIMPL-LESER!
Ab 1. Januar kannst Du mich--
--— beim Postamt bestellen!
Der Bezugspreis von RM. 6.— zuzüglich 24 Pfg. Zu-
stellgebühr wird vom Briefträger erhoben Der Verlag
„DER SIMPL' erscheint Im Monat twelmal
Bezugspreis im Vierteljahr RM 6.— zuzüglich 24 Pfg. Zustell-
gebühr. Bestellungen nehmen die Postanstalten entgegen.
Verlag „DER SIMPL" (Freitag-Verlag), München 23. Werneck-
straße 15a, Fernruf 362072, Postscheckkonto München 37023 —
Verantwortlicher Hauptschriftleiter Willi Ernst Freitag, Stellv.:
J. Gutbrod. — Sprechstunden: Dienstag und Donnerstag von
9 bis 12 Uhr - Druck. Süddeurcher Verlag, München 2, Send-
linger Straße 80 — Copyright by Freitag-Verlag 1946 —
Published under Military Oovernment Information Control License
No. US-B-148.
1%
DIE GESCHICHTE EINER WEIHNACHTSEINLADUNG
Es war für Herrn Cassimir nicht leicht gewesen, Fräulein
Schlosser zu bewegen, mit ihm allein in seinem Zimmer
im „Familienheim Ketteier" Weihnachten zu feiern. Es
wohnten außer ihm, so erzählte er, nur noch zwei alte
Damen und ein ihm selbst kaum bekannter Herr Zettritz
in dieser von einer Siebzigjährigen geführten Pension,
und den Heiligen Abend verbringe jeder für sich. Fräu-
lein Schlosser versprach schließlich, Punkt acht Uhr zu
kommen, wogegen Herr Cassimir den Schwur ablegte, sie
Punkt zehn Uhr nach Hause zu bringen.
Herr Cassimir hatte durchaus vor, diesen Schwur zu
halten. Er war ein freundlicher, philosophischer und etwas
müder Mann von 42 Jahren, der auf Abteilung VII des
gleichen Unternehmens tätig war, in dessen Abteilung III
Fräulein Schlosser arbeitete.
Fräulein Schlosser, Anfang 30, blond, groß und von
schlankhüftiger Ueppigkeit, gefiel ihm. Sie gefiel den
meisten Männern, aber die meisten Männer hatten keine
ernsten Absichten und mit unernsten Absichten traute
man sich nicht recht an Fräulein Schlosser heran. Auch
Herr Cassimir hatte keine ernsten Absichten, er hatte
sozusagen überhaupt keine Absichten und daher den
Mut, sich dahintreiben zu lassen, auch wenn
es ihn geradewegs zu Fräulein Schlosser
trieb. Das war angenehm und schien un-
gefährlich. Gefährliche Abenteuer nämlich
lockten ihn nicht, überhaupt keine Aben-
teuer. Er erinnerte sich mit Schaudern, daß
er vor 20 Jahren allabendlich nach ermüden-
dem Dienst noch anderthalb Stunden ge-
radelt war, um ' mit der Geliebten eine
halbe Stunde zusammen zu sein. Dann wie-
der anderthalb Stunden zurück. Bei jedem
Wetter. Vor zehn Jahren noch war er eines
anderen Mädchens wegen vier- oder fünf-
mal in der Woche ausgegangen, ganz gegen
seine eigentliche Neigung zur Beschaulich-
keit. Nur weil das Mädchen so einen ewigen
Hunger nach Erleben und einen so sehn-
süchtigen Blick gehabt hatte. Dessentwegen
hatte er sogar getanzt, was er haßte. Jetzt
konnte er völlig ungerührt in sehnsüchtige
Augen sehen und dabei mit ungeheurer
Ruhe an den Polsterstuhl seines Zimmers
denken, in dem er Abend für Abend lesend,
schreibend oder Musik hörend versank.
Jahre des Krieges hatte er sich nach sol-
chem Versinken gesehnt. Fräulein Schlosser, ^ ^
so fand er, ließ sich bequem in diesem
abendlichen Programm unterbringen, ohne
es zu stören. Darum lag ihm daran, mit Fräulein Schlos-
ser zusammen zu sein. Sie hatte keine sehnsüchtigen
Augen, keine tanzwütigen Füße, keinen Hunger nach
Erleben, sondern wie er die Freude an der Beschaulich-
keit, die zu einem bescheidenen, stillen Lebensgenuß
führt. Dachte er.
Am Tag vor Weihnachten kam unerwartet ein Paket auä
Amerika an Herrn Cassimir und brachte Dinge, die er
großmütig dem Heiligen Abend zu opfern gedachte. Fräu-
lein Schlosser erschien wirklich um acht: sie hatte rote,
ein wenig aufgeregte Backen, was ihr gut stand. Herr
Cassimir hatte seinem Zimmer durch einige wirkungsvoll
verteilte Tannenzweige ein weihnachtliches Aussehen
gegeben. Fräulein Schlosser schenkte ihm ein Lesezeichen
und einen Aschenbecher und empfing dafür ein Buch,
Schokolade und ein Stück Seife. Sie begann, an der
Schokolade knabbernd, gerade etwas zutraulich zu wer-
den, als es klopfte.
Ein Herr, etwas älter als Herr Cassimir, doch von
jugendlicher Frische, schob ein rundes Gesicht durch den
Türspalt. „Ah, Herr Zettritz — kommen Sie rein" sagte
Herr Cassimir großmütig, denn er kannte bis dahin
Herrn Zettritz nur flüchtig. Herr Zettritz war schon
herin. Fräulein Schlosser wurde befangen, weil sie von
einem Fremden bei Herrn Cassimir getroffen worden war.
Aber Herr Zettritz schien kein Fremder.
„Sagen Sie Cassimir", sagte er vertraulich, „Sie haben
wohl keine richtige Zigarette? Ich glaubte, ich hätte da
neulich unter der Post so 'ne Anmeldekarte eines Care-
pakets für Sie gesehen ..."
Er habe recht gesehen, gestand Herr Cassimir, und legte
eine Packung Chcsterfields auf den Tisch. Herr Zettritz
nahm ungezwungen Platz und Zigarette.
„Tja", sagte er sinnend, „komisches Weihnachten für
mich, wenn ich an die großartigen Feiern daheim in
Riga..." Er bezwang die aufsteigende Rührung und
nahm eine neue Zigarette. Fräulein Schlosser sagte mild,
jeder hätte heute sein Päckchen zu tragen. Herr Cassimir
hätte gewünscht, sie hätte was anderes gesagt, denn dieses
Päckchen ward seitens der Pensionsmutter unermüdlich
jedem bei jeder Beschwerde aufgeladen und voraus Herr
Zettritz bekam es täglich wie einen tröstlichen Stempel
aufgedrückt. Aber Herr Zettritz schien das nicht zu
stören.
,,'ne kleine Süßigkeit wäre jetzt herrlich — janz häärlich"
murmelte er verloren und Fräulein Schlosser sah Herrn
Cassimir bittend an. Er holte die Rosinen, die Drops
und die Schokoladestückchen des Paketes. Herr Zettritz
griff munter zu und bot Fräulein Schlosser an. Sie dankte
ihm herzlich. Herr Cassimir gönnte beiden beides. Herr
Zettritz blickte zur Decke.
„Weihnachten fließt bei uns zu Hause in Riga der Alko-
hol in Strömen — tja, Alkohol", träumte er laut. „Lag
leider dem Paket nicht bei", sagte Herr Cassimir zuvor-
kommend „Ob die alte Gianini nebenan noch Rum hat?"
fragte Herr Zettritz überlegend. Die alte Dame war die
Witwe eines Schnapsfabrikanten. Herr Cassimir zuckte
die Achseln. Herr Zettritz erhob sich in plötzlichem Ent-
schluß. „Bin gleich wieder da", versprach er und ver-
schwand.
„Ich hatte keineswegs die Absicht, mit ihm Weihnachten
zu feiern", sagte Herr Cassimir nachdenklich. „Aber er
KOHOLFREIER SILVESTERPUNSCH
ist doch so nett", sagte Fräulein Schlosser und in ihrer
Stimme lag ein zufriedenes Schnurren, das Herrn Cassi-
mir befremdete. Sie schien es zu genießen, aus dem
Alleinsein mit Herrn Cassimir in den Mittelpunkt eines
Herrenabends zu rücken. Ihre Augen hatten ein klein
wenig Sehnsüchtiges, aber Herr Cassimir wünschte das zu
übersehen Er stopfte Fräulein Schlosser rasch einige
Scheiben Ingwerbrot und einige Erdnüsse in den Mund.
Da kam Herr Zettritz schon zurück Um seine Nase stand
ein glänzender rötlicher Schein. Er trug eine große
Flasche Jamrikarum unterm Arm. Er müsse sein Elend
vertrinken hätte er der alten Schnapswitwe gesagt, die
ihn anbetete Er schenkte den Rum in Tassen, sich selber
pur. den beiden anderen mit Tee gemischt In seinem
Haus in Riga habe man ihn stets pur getrunken, aber
man müsse das gewöhnt sein. Dazu schob er eine Hand-
Familienleben
Väter, Mütter, Schwestern, Brüder
schließen, kommen sie mal über
's Kreuz, geschwind die Fenster zu!
Anders pflegt's die CSU:
Wenn der Hund mit dem Hammer
den Müller pix-t,
daß der Horl voller Ach mit dem
Pfeifferl quiekst,
ei, dann zeigt sich diese schöne
köstliche Familienszene
stolz dem ganzen Publikum!
Schöner wär es andersrum!
Weha
voll Süßigkeiten in den Mund. Man müsse Wedhnachts-
lieder haben, forderte er dann laut. „Ach ja, bitte", riet
auch Fräulein Schlosser und sah Herrn Cassimir schmel-
zend an. Herr Cassimir erschrak vor Herrn Zettritzens
Sangesfreude und vor Fräulein Schlossers Gemüt. Er
drehte den Radio an. Aber daraus krachten nur knallende
Fehlzündungen, da nebenan Frau Gianini ihren Heizofen
angesteckt hatte. „Wir singen selber", jubelte Herr
Zettritz und brüllte dröhnend „0 Tannenbaum, wie grün
sind deine Blätter!" Fräulein Schlosser fiel dünn mit der
zweiten Stimme ein und suchte Herrn Cassimirs Hand.
Er machte ihr das Finden schwer. Da griff sie hin-
gerissen nach der Rechten ihres Mitsängers. Herr Zettritz
schwang die Rumflasche und trank nun schon aus deren
offenem Hals. „Auf meinen Gütern bei Riga hätten Sie
Weihnachten erleben sollen", schrie er. Sein Besitz im
Baltischen wuchs stündlich. Wenig später erzählte er von
seinem Schloß, auf dem General Rennenkampf in Herrn
Zettritz' Jugend oft zu Gast gewesen wäre. Daraus
wurden dann bald einige Kindheitserinnerungen mit
etlichen Großfürsten. Er wuchs und seine eigene Größe
verwirrte ihn. Versehentlich erzählte er von Jagdpartien
mit dem Gauleiter des Ostlandes. Herr
Cassimir wurde aufmerksam. Fräulein
Schlosser hing an Herrn Zettritz' Lippen,
gleich ob sie sangen oder lärmten.
„Leben Sie hier in eigenen Möbeln. Cassi-
mir?" fragte Herr Zettritz. „Nur Schrank
und Couch gehören mir", sagte Herr Cassi-
mir. Da trat Herr Zettritz mit einem ge-
waltigen Sprung gegen die Schranktür und
brach ein Stück heraus.
„Sind Sie wahnsinnig", schrie Herr Cassi-
mir wütend, aber Herr Zettritz stammelte
„Verzeihen Sie mir, mein Freund — kön-
nen Sie ohne Feuer sein in Gegenwart
einer solchen Frau?" . .. und er glühte Fräu-
lein Schlosser an und warf das Holz der
Schranktür in den Ofen.
„Ich nähe Ihnen einen Vorhang", sagte
Fräulein Schlosser tröstend. „Es war wirk-
lich kühl hier." In ihren sehnsüchtigen
Augen klimperte Tanzmusik.
„Auf meinen Schlössern mußten überall
Kamine brennen, den ganzen Winter durch",
schrie Herr Zettritz, und da wurde es Herrn
Cassimir plötzlich zu dumm. Er sagte:
„Ich dachte. Sie lebten schon seit zwanzig
Jahren hier..."
Herr Zettritz sah ihn mitleidig an. „Ich
lebe seit 1918 in der freiwilligen Emigration, aber nicht
in lächerlichen Bürger-Pensionen", sagte er voll Ver-
achtung.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen" sagte Fräulein
Schlosser, „Hauptsache man bleibt frisch dabei."
„Ganz recht, prost schöne Frau" schrie Herr Zettritz.
Herr Cassimir sagte, er habe geschworen. Fräulein Schlos-
ser um zehn heimzubringen es sei nun schon nach Mit-
ternacht. Fräulein Schlosser war erschrocken und schlüpfte
eilends in ihren Mantel, der eine pelzgefütterte Kapuze
hatte. „Reizend hinreißend, wie eine Prinzessin", flü-
sterte Herr Zettritz.
„Ja wie die Großfürstin Anastasia Ihre Jugendgespielin",
sagte Herr Cassimir kalt. Er hatte genug. Er hatte in
Fräulein Schlossers sehnsüchtigen Augen die fürchterliche
Bedrohung seiner Ruhe gelesen Er war Herrn Zettritz
gar nicht so ganz undankbar Fräulein Schlosser sagte,
es sei reizend gewesen, Herr Zettritz sagte ein wenig
abwesend er glaube die Gianini hätte noch ein paar
Flaschen Herr Cassimir dachte zufrieden an seinen
Polsterstuhl Er verschob die Richtigstellungen all des
Gemeinten und Vermeintlichen auf später Auf morgen
oder aufs neue Jahr oder auf nie. Noch wußte er's nicht
und lieferte das verwandelte Fräulein Schlosser ein wenig
eilig an ihrer Haustür ab. E. Rudolf
LIEBER SIMPL-LESER!
Ab 1. Januar kannst Du mich--
--— beim Postamt bestellen!
Der Bezugspreis von RM. 6.— zuzüglich 24 Pfg. Zu-
stellgebühr wird vom Briefträger erhoben Der Verlag
„DER SIMPL' erscheint Im Monat twelmal
Bezugspreis im Vierteljahr RM 6.— zuzüglich 24 Pfg. Zustell-
gebühr. Bestellungen nehmen die Postanstalten entgegen.
Verlag „DER SIMPL" (Freitag-Verlag), München 23. Werneck-
straße 15a, Fernruf 362072, Postscheckkonto München 37023 —
Verantwortlicher Hauptschriftleiter Willi Ernst Freitag, Stellv.:
J. Gutbrod. — Sprechstunden: Dienstag und Donnerstag von
9 bis 12 Uhr - Druck. Süddeurcher Verlag, München 2, Send-
linger Straße 80 — Copyright by Freitag-Verlag 1946 —
Published under Military Oovernment Information Control License
No. US-B-148.
1%
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Alkoholfreier Sylvesterpunsch"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 1.1946, Nr. 16, S. 196.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg