und ihr tcerdet eure Städte nicht wiedererkennen!"
DER niTLICFER
Die Menschen sind nicht alle gleich. Man kann sie auf die ver-
schiedenste Art und Weise eingruppieren. Früher teilte man sie
bei uns ein in Arier und Nichtarier, in Regimenter und Kom-
panien, aber das ist jetzt vorbei, wenigstens bei uns. Aber es
gibt noch viele andere Möglichkeiten, zum Beispiel in Berufs-
untätige und Hungernde, in Menschen vor und hinter dem
Schalter, aber da ist der Unterschied schon etwas groß, das
sind schon fast nicht mehr Lebewesen derselben Gattung. Viel-
leicht kann man auch einmal unterscheiden zwischen Entnazifizier-
ten und Nichtnazifizierten, aber frühestens in zwanzig Jahren.
Eigentlich wollte ich von den Menschen gar nichts erwähnen,
sondern nur von den Anträgen; die kann man nämlich auch ein-
teilen, in dringende und weniger dringende. Jedoch — wir leben
im Zeitalter der Technik, also gibt es geschmierte und un-
geschmierte Anträge. Es ist genau so wie bei den Autos, ein
gutgeschmiertes erreicht sein Ziel und ein ungeschmiertes wandert
bald in den Autofriedhof (hier Papierkorb). Ein schlecht ge-
schmiertes muß nachgeschmiert werden oder.....vielleicht
schauen Sie wieder einmal vorbei, zur Zeit ist leider nichts zu
machen".
Wie gesagt, bei den Autos weiß das heute jedes Kind, und bei
den Anträgen — — auch.
Unsere Stadt wird jetzt wieder aufgebaut, nicht in zwei bis drei
Jahren, und auch nicht schöner denn je, das haben wir nie
geglaubt. Einen ungefähren Zeitpunkt wird man bei dem jetzigen
Tempo schwer errechnen können, aber damit sollen sich unsere
Enkel abmühen, wir wissen, daß wir es nicht mehr erleben
werden.
Jedes Zeitalter hat seinen besonderen Stil, das haben wir ein-
mal in der Schule gelernt. In 500 Jahren werden die Kinder
lernen: Um das Jahr 1946 war die Zeit der Kino- und Geschäfts-
bauten, und das kommt daher, weil man damals eine Bau-
genehmigung brauchte, und die wiederum mußte beantragt
werden — — —--
Daß Kinos jetzt laufend wiederhergestellt werden, ist verständ-
lich. Irgendwo muß ja das Geld untergebracht werden, das viele,
das sie jetzt bekommen, seitdem die Eintrittspreise so ohne
weiteres fast ums Doppelte erhöht wurden, trotz Preiskontrolle
und Preiskommissar (so leicht möchte ich mir einmal mein
Gehalt verdienen!). Ja, bei Kinos verstehe ich es, man hat fa
schließlich Verständnis für die Kunst.
Aber es sind nicht die Lichtspielhäuser allein, überall entstehen
neben Zigarrengeschäftea (die wegen „Ware nicht eingetroffen"
geschlossen halten) Blumenläden. Wo noch vor Wochen eine
ausgebombte Fassade stand, prunkt heute ein herrliches Geschäft,
und darüber, ja, da würden die Wobnungen anfangen, also
immer noch die Fassade. Ich glaube, in allen Städten gibt es
mehr solche Läden als Gaststätten.
Vor einigen Tagen wollte ich mir ein paar Blumen kaufen. Ich
hätte sie dringend gebraucht. Darum wartete ich bereits eine
halbe Stunde vor Oeffnung an der Ladentüre. Immer wieder
studierte ich das Schild: Dienstag und Freitag von 9—10 Uhr
geöffnet. Es war ein schönes Geschäft, ganz neu. Verhältnis-
mäßig pünktlich um Vi 10 Uhr kam die Verkäuferin.
„Ich hätte gerne ein paar Blumen, es darf etwas ganz Einfaches
sein, der Preis spielt natürlich keine Rolle." — ..Blumen? Habe
ich selbst seit vier Wochen nicht mehr gesehen, hier, alles, was
ich habe, ein Pfund Fichtengrün zu drei Mark " — Ich kaufte
solch einen Strauß und freute mich, weil man ihn obendrein noch
verbrennen kann. — „Ich hätte noch eine Frage, interessehalber.
Sagen Sie, kann sich so ein Geschäft jetzt überhaupt rentieren?"
— „Na ja, wissen Sie, was heißt rentieren, bei diesen Steuern!
Aber ich kann ganz gut davon leben."
Ich ging. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Diese Frau kann
von ihrem Geschäft leben, und sie lebt der Figur nach nicht
schlecht, obwohl sie nur zwei Stunden in der Woche geöffnet hat,
und andere wieder arbeiten die ganze Woche und können davon
nicht leben.--- S. Schioedev
1»14
DER EWIGE BESSERWISSER
nur xi>\ r> '
S. Busch
w3
1 9 44: „Wenn erst unsere neuen Waffen eingesetzt 1 9 4 7: „Es kommt noch ganz anders: Der völlige
werden, dann können die andern einpacken!" Zusammenbruch ist nicht aufzuhalten!"
DAS LIED VOM LEBENSRAUM
Wir Kinder trinken Magermilch, wir haben keine Schuh',
Wir schlafen drei in einem Bett und sind mit dem Hunger
per „Du",
Die Mutter wird des Tags nicht froh,
Der Vater blieb bei Stalino;
Wir sind oft müd' und merken's kaum,
Uns fehlt nichts — nur der Lebensraum.
Es tnüßten uns'rer viele sein, so hat man laut gelehrt,
Damit's genügend „Herren" gibt, wenn uns die Welt gehört.
Die Mutter kriegt' ein gold'nes Kreuz,
Sie kriegt's beim achten Kind bereits.
Jetzt hängen elf an ihrem Saum —
Und allen fehlt's an Lebensraum!
Man hat auf höheren Befehl uns in die Welt gesetzt.
Die Väter wurden dann — für „uns"I — bald in den
Krieg gehetzt.
Wir wurden zarten Frauen zur Qual —
Das Kind galt nichts — nur die Kinderzahll
Die Riesenzahl war der Mächtigen Traum;
Man brauchte sie für den Lebensraum!
Nun ist der Raum so eng und klein, so übervoll das Haus.
Doch drinnen geistert schon die Angst: „Gebt acht, das
Volk stirbt aus!"
Statistiken fordern trotz Elend und Leid
Erhöhte Geburtenfreudigkeit.
Bald schlägt man wieder den ewigen Schaum:
„Schafft Kinder — und ihnen den Lebensraum!"
Die Kinder von einst, die aßen sich satt und schliefen ganz
bequem,
W i r lagen in Windeln aus Altpapier, man wäscht uns
mit Seife aus Lehm.
Laßt nur ein Weilchen das alte Geschrei,
Daß Geburtenbelebung vonnöten sei.
Belebt erst uns — wir leben ja kaum —
Und gönnt uns das klein bißchen Lebensraum! Vim
l»3»
und I»4»
DER niTLICFER
Die Menschen sind nicht alle gleich. Man kann sie auf die ver-
schiedenste Art und Weise eingruppieren. Früher teilte man sie
bei uns ein in Arier und Nichtarier, in Regimenter und Kom-
panien, aber das ist jetzt vorbei, wenigstens bei uns. Aber es
gibt noch viele andere Möglichkeiten, zum Beispiel in Berufs-
untätige und Hungernde, in Menschen vor und hinter dem
Schalter, aber da ist der Unterschied schon etwas groß, das
sind schon fast nicht mehr Lebewesen derselben Gattung. Viel-
leicht kann man auch einmal unterscheiden zwischen Entnazifizier-
ten und Nichtnazifizierten, aber frühestens in zwanzig Jahren.
Eigentlich wollte ich von den Menschen gar nichts erwähnen,
sondern nur von den Anträgen; die kann man nämlich auch ein-
teilen, in dringende und weniger dringende. Jedoch — wir leben
im Zeitalter der Technik, also gibt es geschmierte und un-
geschmierte Anträge. Es ist genau so wie bei den Autos, ein
gutgeschmiertes erreicht sein Ziel und ein ungeschmiertes wandert
bald in den Autofriedhof (hier Papierkorb). Ein schlecht ge-
schmiertes muß nachgeschmiert werden oder.....vielleicht
schauen Sie wieder einmal vorbei, zur Zeit ist leider nichts zu
machen".
Wie gesagt, bei den Autos weiß das heute jedes Kind, und bei
den Anträgen — — auch.
Unsere Stadt wird jetzt wieder aufgebaut, nicht in zwei bis drei
Jahren, und auch nicht schöner denn je, das haben wir nie
geglaubt. Einen ungefähren Zeitpunkt wird man bei dem jetzigen
Tempo schwer errechnen können, aber damit sollen sich unsere
Enkel abmühen, wir wissen, daß wir es nicht mehr erleben
werden.
Jedes Zeitalter hat seinen besonderen Stil, das haben wir ein-
mal in der Schule gelernt. In 500 Jahren werden die Kinder
lernen: Um das Jahr 1946 war die Zeit der Kino- und Geschäfts-
bauten, und das kommt daher, weil man damals eine Bau-
genehmigung brauchte, und die wiederum mußte beantragt
werden — — —--
Daß Kinos jetzt laufend wiederhergestellt werden, ist verständ-
lich. Irgendwo muß ja das Geld untergebracht werden, das viele,
das sie jetzt bekommen, seitdem die Eintrittspreise so ohne
weiteres fast ums Doppelte erhöht wurden, trotz Preiskontrolle
und Preiskommissar (so leicht möchte ich mir einmal mein
Gehalt verdienen!). Ja, bei Kinos verstehe ich es, man hat fa
schließlich Verständnis für die Kunst.
Aber es sind nicht die Lichtspielhäuser allein, überall entstehen
neben Zigarrengeschäftea (die wegen „Ware nicht eingetroffen"
geschlossen halten) Blumenläden. Wo noch vor Wochen eine
ausgebombte Fassade stand, prunkt heute ein herrliches Geschäft,
und darüber, ja, da würden die Wobnungen anfangen, also
immer noch die Fassade. Ich glaube, in allen Städten gibt es
mehr solche Läden als Gaststätten.
Vor einigen Tagen wollte ich mir ein paar Blumen kaufen. Ich
hätte sie dringend gebraucht. Darum wartete ich bereits eine
halbe Stunde vor Oeffnung an der Ladentüre. Immer wieder
studierte ich das Schild: Dienstag und Freitag von 9—10 Uhr
geöffnet. Es war ein schönes Geschäft, ganz neu. Verhältnis-
mäßig pünktlich um Vi 10 Uhr kam die Verkäuferin.
„Ich hätte gerne ein paar Blumen, es darf etwas ganz Einfaches
sein, der Preis spielt natürlich keine Rolle." — ..Blumen? Habe
ich selbst seit vier Wochen nicht mehr gesehen, hier, alles, was
ich habe, ein Pfund Fichtengrün zu drei Mark " — Ich kaufte
solch einen Strauß und freute mich, weil man ihn obendrein noch
verbrennen kann. — „Ich hätte noch eine Frage, interessehalber.
Sagen Sie, kann sich so ein Geschäft jetzt überhaupt rentieren?"
— „Na ja, wissen Sie, was heißt rentieren, bei diesen Steuern!
Aber ich kann ganz gut davon leben."
Ich ging. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Diese Frau kann
von ihrem Geschäft leben, und sie lebt der Figur nach nicht
schlecht, obwohl sie nur zwei Stunden in der Woche geöffnet hat,
und andere wieder arbeiten die ganze Woche und können davon
nicht leben.--- S. Schioedev
1»14
DER EWIGE BESSERWISSER
nur xi>\ r> '
S. Busch
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1 9 44: „Wenn erst unsere neuen Waffen eingesetzt 1 9 4 7: „Es kommt noch ganz anders: Der völlige
werden, dann können die andern einpacken!" Zusammenbruch ist nicht aufzuhalten!"
DAS LIED VOM LEBENSRAUM
Wir Kinder trinken Magermilch, wir haben keine Schuh',
Wir schlafen drei in einem Bett und sind mit dem Hunger
per „Du",
Die Mutter wird des Tags nicht froh,
Der Vater blieb bei Stalino;
Wir sind oft müd' und merken's kaum,
Uns fehlt nichts — nur der Lebensraum.
Es tnüßten uns'rer viele sein, so hat man laut gelehrt,
Damit's genügend „Herren" gibt, wenn uns die Welt gehört.
Die Mutter kriegt' ein gold'nes Kreuz,
Sie kriegt's beim achten Kind bereits.
Jetzt hängen elf an ihrem Saum —
Und allen fehlt's an Lebensraum!
Man hat auf höheren Befehl uns in die Welt gesetzt.
Die Väter wurden dann — für „uns"I — bald in den
Krieg gehetzt.
Wir wurden zarten Frauen zur Qual —
Das Kind galt nichts — nur die Kinderzahll
Die Riesenzahl war der Mächtigen Traum;
Man brauchte sie für den Lebensraum!
Nun ist der Raum so eng und klein, so übervoll das Haus.
Doch drinnen geistert schon die Angst: „Gebt acht, das
Volk stirbt aus!"
Statistiken fordern trotz Elend und Leid
Erhöhte Geburtenfreudigkeit.
Bald schlägt man wieder den ewigen Schaum:
„Schafft Kinder — und ihnen den Lebensraum!"
Die Kinder von einst, die aßen sich satt und schliefen ganz
bequem,
W i r lagen in Windeln aus Altpapier, man wäscht uns
mit Seife aus Lehm.
Laßt nur ein Weilchen das alte Geschrei,
Daß Geburtenbelebung vonnöten sei.
Belebt erst uns — wir leben ja kaum —
Und gönnt uns das klein bißchen Lebensraum! Vim
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Der ewige Besserwisser" "Der Mitläufer"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Kommentar
Signatur: Siegfried Busch / Hannes
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 2, S. 17.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg