DER SURREALISMUS
Genesis
Als der deutsche Künstler Franz Einfacher einige gött-
liche Funken in Form einiger französischer Kunstzeit-
schriften einfach so mir nichts dir nichts auf seinen Kaffee-
haustisch fliegen sah, faßte er, wie es die meisten unein-
fachen Deutschen in solchen Fällen zu tun pflegen —
einen komplizierten Gedanken.
Uns einfachen Deutschen aber bedeutete das die Geburts-
stunde des Surrealismus hierzulande.
Einfacher bezahlte damals schnell zu einem ganz reellen
Preis eine ganz reale Tasse Bohnenkaffee, was etwa zwei
Jahrzehnte später für einen einfachen Deutschen etwas
Surreales werden sollte, und eilte nach Hause.
Nachdem er seine erstaunte Gattin mit einem kurzen
„Bong soir" zur Seite geschoben hatte, machte er sich an
der Bücherstellage auf die Suche nach einem französi-
schen Lexikon.
*
Alle Dinge haben einen Grund, und Franz Einfacher
wäre lieber zugrunde gegangen als dieser neuen Sache
nicht auf den Grund gekommen, und damit bewies er
wieder einmal, daß er auf deutschem Grund und Boden
aufgewachsen war.
*
Erstes Ergebnis: sur = über
Zweites Ergebnis: Realismus = Wirklichkeit
Drittes Ergebnis: Surrealismus = Überwirklichkeit
Ein guter Gedanke zieht tausend nach sich; Franz Ein-
facher kam mit dem Denken allein nicht mehr aus, er
begann zu phantasieren, er träumte bereits, er war auf
dem Grund der Überwirklichkeit eingeschlafen.
Schöpferischer Traum
Einfachers Bett hatte statt der Eckpfosten Schnecken-
köpfe und glitt langsam knirschend auf einem Meer von
R. Kriesch
geöffneten Augen. Von Zeit zu Zeit tauchten aus den
Tiefen ein Polizist mit preußischer Pickelhaube, ein Ober-
studienrat, ein städtischer Beamter und noch mehrere
leitende Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens her-
auf und riefen seinen Namen: „Einfacher, —Ein—fa—
eher", dann wieder kurz: „Einfadir." — Alles verein
fachte sich rings, als plötzlich ein Regen aus lauter Spin-
nen einsetzte, der bald alle Augen und das Bett zudeckte
und auch die Schneckenköpfe, die ihre Fühler einzogen
und offenbar in dem tollen, dichten Gekrabbel keine
Luft mehr bekamen. Sie schwollen an, — Einfacher ge-
stikulierte wild und zerquetschte dabei immer mehr
Spinnen, — und platzten schließlich, wobei ihre Fleisch-
fetzen ihm teilweise ins Gesicht flogen und ein furcht-
barer, ekelerregender Gestank sich verbreitete. Durch
eine Gedankenassoziation wurde er schnell an seine Mili-
tärzeit, an einen Ausmarsch des Pi.Batl. 2791 br. auf dem
Truppenübungsplatz Lechfeld bei Augsburg und an sei-
nen Feldwebel Schneider erinnert, aber kein Traum
weilt zu lange bei den schönen Dingen . . .
In der Zeit
von 1933 bis 1945 übertraf die Wirklichkeit selbst die un-
erhörteste „Überwirklichkeit", und Franz Einfacher emi-
grierte nach Innen. Er entwarf kleine Bildskizzen und
schrieb zwei Bände Aphorismen, von denen hier eine
kleine Probe genügen möge:
„Die reine Apollinik ist der Sonnenschirm des Spießers."
„Der Krieg ist der Vater aller verlorenen Söhne."
„Die Malerei darf nie wieder malerisch werden!"
... bis endlich die letzten Stunden der letzten tausend
surrealistischen Jahre vergingen.
A k m e 1946
Man hätte vermuten können, daß der Kunsthistoriker
Dr. phil. Rudolf Zart geradezu hysterisch daherreden
müsse, wenn er über Franz Einfacher als den Maler
unseres Jahrhunderts im Auditorium Maximum der Uni-
versität der Landeshauptstadt seinen auf vielen Plakaten
angekündigten Vortrag halten würde. Aber ganz das
Gegenteil war der Fall. Von den vor-buddhistischen
Miniaturisten über die Ägypter und Griechen herauf-
kommend, bewies er ruhig und klar, besonders an Hand
der beiden auf der Projektionswand gezeigten Bilder
„Glühender Damenstrumpf und Polyp im Gebirge" und
„Das Generalsgehirn", daß die Malerei Einfachers in
gewissem Sinn einen Endpunkt einer langen Entwick-
lung darstelle und außerdem wahrscheinlich die einzige
Basis sei, auf der man weiterbauen könne. Das Publi-
kum sparte nicht mit Beifall, und unter den Abziehenden
bemerkte man auch mehrere junge, demokratische Stu-
denten in freier Diskussion eifrig randalierend. Der
neunzehnjährige -Dittmar von Stechlin, selbst der Sohn
eines ehemals hochrangigen Offiziers, platzte — aller-
dings vorsichtig und halblaut — heraus, daß das „Gene-
ralsgehirn" geradezu ein Saustall gewesen sei.
Die Zeitungen indes lobten Einfachers Meisterschaft mit
allen Federn.
Realistisches Ende
Es bleibt dem Chronisten noch übrig zu erwähnen, daß
ein Bild Einfachers ein besonderes Schicksal hatte. Es
war die zweite Fassung des Gemäldes „Innereien unter
einer Frühlingswiese". (Die Originalfassung hatte bereits
das schwäbische Nationalmuseum für moderne Kunst in
Stuttgart erworben.) Unter dem drückenden Kalorien-
mangel dieser Zeit kam Einfacher auf einen wahrhaft
„surrealistischen" Gedanken. Er durchschnitt kurzerhand
sein eigenes Bild und gab die untere Hälfte mit den In-
nereien dem Metzgermeister Blasius Zwickel und die
oben übrig gebliebene Frühlingswiese dessen besserer
Ehehälfte. Sein Erfolg war auch diesmal wieder unbe-
streitbar, und man wird daraus schließen müssen, daß
man sich jedenfalls mit den Problemen des Surrealismus
noch auseinander-setzen muß, bevor man allzuschnell
endgültig urteilt. Ist auch diese Methode vielleicht etwas
roh, wir finden sie doch schon in Einfachers Aphorismen
vorgezeichnet, wo es weise in schlichter Weise heißt:
„Oben und unten sind für den wahren Surrealisten
immer nur Gleichnisse." Cyrill
„Siehst du, August, wenn ich dich so anschaue, gefällt mir das Bild doch wieder besser."
DER REALISMUS
Durch die ^
Gassen ....
schleicht ,
der Hunger.
Hunger! ■• •
Immerfort!
Auf den
Straßen
schwanken „,
Menschen,
Schleppen . ,
sich von „ „
Ort zu Ort.
Kinder , ,
haben
dünne . .
Beinchen,
Hungern — ,
hungern — .
immerfort.
Und das , . ... ,
christliche _
Gewissen
Kommt vor „ ,
Reden
nicht zu Wort.
Staatsmaschinen , ,
pendeln
weiter:
Hunger!
Hunger!
Immerfort!
Marken, g-ar^e
' Schuhverteilung,
Klumpen , . ,„
hierhin,
Klumpen
dort.
Und der „ .
Schrei
entnervter „ ,
Seelen
Peitscht empor, gucn^
Gotteswort! —
Durch die _
Gassen
schleicht ,
der Hunger.
Hunger!
Hunger!
Immerfort! „ Schn,ekIo„,
90
Genesis
Als der deutsche Künstler Franz Einfacher einige gött-
liche Funken in Form einiger französischer Kunstzeit-
schriften einfach so mir nichts dir nichts auf seinen Kaffee-
haustisch fliegen sah, faßte er, wie es die meisten unein-
fachen Deutschen in solchen Fällen zu tun pflegen —
einen komplizierten Gedanken.
Uns einfachen Deutschen aber bedeutete das die Geburts-
stunde des Surrealismus hierzulande.
Einfacher bezahlte damals schnell zu einem ganz reellen
Preis eine ganz reale Tasse Bohnenkaffee, was etwa zwei
Jahrzehnte später für einen einfachen Deutschen etwas
Surreales werden sollte, und eilte nach Hause.
Nachdem er seine erstaunte Gattin mit einem kurzen
„Bong soir" zur Seite geschoben hatte, machte er sich an
der Bücherstellage auf die Suche nach einem französi-
schen Lexikon.
*
Alle Dinge haben einen Grund, und Franz Einfacher
wäre lieber zugrunde gegangen als dieser neuen Sache
nicht auf den Grund gekommen, und damit bewies er
wieder einmal, daß er auf deutschem Grund und Boden
aufgewachsen war.
*
Erstes Ergebnis: sur = über
Zweites Ergebnis: Realismus = Wirklichkeit
Drittes Ergebnis: Surrealismus = Überwirklichkeit
Ein guter Gedanke zieht tausend nach sich; Franz Ein-
facher kam mit dem Denken allein nicht mehr aus, er
begann zu phantasieren, er träumte bereits, er war auf
dem Grund der Überwirklichkeit eingeschlafen.
Schöpferischer Traum
Einfachers Bett hatte statt der Eckpfosten Schnecken-
köpfe und glitt langsam knirschend auf einem Meer von
R. Kriesch
geöffneten Augen. Von Zeit zu Zeit tauchten aus den
Tiefen ein Polizist mit preußischer Pickelhaube, ein Ober-
studienrat, ein städtischer Beamter und noch mehrere
leitende Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens her-
auf und riefen seinen Namen: „Einfacher, —Ein—fa—
eher", dann wieder kurz: „Einfadir." — Alles verein
fachte sich rings, als plötzlich ein Regen aus lauter Spin-
nen einsetzte, der bald alle Augen und das Bett zudeckte
und auch die Schneckenköpfe, die ihre Fühler einzogen
und offenbar in dem tollen, dichten Gekrabbel keine
Luft mehr bekamen. Sie schwollen an, — Einfacher ge-
stikulierte wild und zerquetschte dabei immer mehr
Spinnen, — und platzten schließlich, wobei ihre Fleisch-
fetzen ihm teilweise ins Gesicht flogen und ein furcht-
barer, ekelerregender Gestank sich verbreitete. Durch
eine Gedankenassoziation wurde er schnell an seine Mili-
tärzeit, an einen Ausmarsch des Pi.Batl. 2791 br. auf dem
Truppenübungsplatz Lechfeld bei Augsburg und an sei-
nen Feldwebel Schneider erinnert, aber kein Traum
weilt zu lange bei den schönen Dingen . . .
In der Zeit
von 1933 bis 1945 übertraf die Wirklichkeit selbst die un-
erhörteste „Überwirklichkeit", und Franz Einfacher emi-
grierte nach Innen. Er entwarf kleine Bildskizzen und
schrieb zwei Bände Aphorismen, von denen hier eine
kleine Probe genügen möge:
„Die reine Apollinik ist der Sonnenschirm des Spießers."
„Der Krieg ist der Vater aller verlorenen Söhne."
„Die Malerei darf nie wieder malerisch werden!"
... bis endlich die letzten Stunden der letzten tausend
surrealistischen Jahre vergingen.
A k m e 1946
Man hätte vermuten können, daß der Kunsthistoriker
Dr. phil. Rudolf Zart geradezu hysterisch daherreden
müsse, wenn er über Franz Einfacher als den Maler
unseres Jahrhunderts im Auditorium Maximum der Uni-
versität der Landeshauptstadt seinen auf vielen Plakaten
angekündigten Vortrag halten würde. Aber ganz das
Gegenteil war der Fall. Von den vor-buddhistischen
Miniaturisten über die Ägypter und Griechen herauf-
kommend, bewies er ruhig und klar, besonders an Hand
der beiden auf der Projektionswand gezeigten Bilder
„Glühender Damenstrumpf und Polyp im Gebirge" und
„Das Generalsgehirn", daß die Malerei Einfachers in
gewissem Sinn einen Endpunkt einer langen Entwick-
lung darstelle und außerdem wahrscheinlich die einzige
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neunzehnjährige -Dittmar von Stechlin, selbst der Sohn
eines ehemals hochrangigen Offiziers, platzte — aller-
dings vorsichtig und halblaut — heraus, daß das „Gene-
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Die Zeitungen indes lobten Einfachers Meisterschaft mit
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Realistisches Ende
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ein Bild Einfachers ein besonderes Schicksal hatte. Es
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einer Frühlingswiese". (Die Originalfassung hatte bereits
das schwäbische Nationalmuseum für moderne Kunst in
Stuttgart erworben.) Unter dem drückenden Kalorien-
mangel dieser Zeit kam Einfacher auf einen wahrhaft
„surrealistischen" Gedanken. Er durchschnitt kurzerhand
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man sich jedenfalls mit den Problemen des Surrealismus
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„Oben und unten sind für den wahren Surrealisten
immer nur Gleichnisse." Cyrill
„Siehst du, August, wenn ich dich so anschaue, gefällt mir das Bild doch wieder besser."
DER REALISMUS
Durch die ^
Gassen ....
schleicht ,
der Hunger.
Hunger! ■• •
Immerfort!
Auf den
Straßen
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Schleppen . ,
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Ort zu Ort.
Kinder , ,
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Hungern — ,
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nicht zu Wort.
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Hunger!
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Immerfort!
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hierhin,
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Und der „ .
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Gotteswort! —
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Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Der Simpl
Titel
Titel/Objekt
"Der Surrealismus"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Der Simpl: Kunst - Karikatur - Kritik
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-11-5 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum
um 1947
Entstehungsdatum (normiert)
1942 - 1952
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Der Simpl, 2.1947, Nr. 8, S. 90.
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg